Rezension über:

Paola Bertucci: In the Land of Marvels. Science, Fabricated Realities, and Industrial Espionage in the Age of the Grand Tour, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2023, VIII + 168 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-1-4214-4710-0, USD 54,95
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Rezension von:
Sebastian Becker
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Becker: Rezension von: Paola Bertucci: In the Land of Marvels. Science, Fabricated Realities, and Industrial Espionage in the Age of the Grand Tour, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8 [15.07.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/07/39812.html


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Paola Bertucci: In the Land of Marvels

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Im Zentrum des - so viel sei vorweggenommen - überaus anregenden Buches steht die Italienreise des französischen Gelehrten Jean-Antoine Nollet im Jahr 1746. Offiziell war Nollet im Auftrag der Pariser Académie des Sciences aufgebrochen, um Berichten über die medizinische Anwendung von Elektrizität nachzugehen, die der Italiener Gianfrancesco Pivati mit "elektrischen Röhren" erzielt haben wollte. Nollets drei Jahre später gedruckter und schließlich auch ins Englische übersetzter Bericht über seinen Aufenthalt und die wissenschaftliche Kontroverse mit Pivati erhielt im 18. Jahrhundert weithin Aufmerksamkeit. Nur: Wie Bertucci anhand von Nollets Reiseaufzeichnungen und Korrespondenz zeigen kann, war dieser Bericht - dem heutigen Sprachgebrauch folgend - "Fake News". Die vermeintliche Auseinandersetzung mit Pivati hatte auf seiner Reise keine nennenswerte Rolle gespielt, und auch die von ihm beschriebenen Kontroversen mit italienischen Gelehrten hatten so nie stattgefunden. Tatsächlich war Nollet im Auftrag des in Frankreich für Fragen des Handels und des Wirtschaftswesens zuständigen Bureau de Commerce nach Italien gereist, um das Geheimnis der piemontesischen Seidenindustrie auszuspionieren. Unter dem Deckmantel gelehrten Interesses sollte er der französischen Wirtschaft ökonomische Vorteile sichern.

Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus Bertucci dem Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Fiktion, ökonomischen Interessen und Erwartungen einer gelehrten Leserschaft im Jahrhundert der Aufklärung nachgeht. Sie adressiert dabei einen für die frühneuzeitliche Wissens- und Wissenschaftsgeschichte durchaus überraschenden Befund: dass experimentelle Philosophie eben nicht bloß auf die Empirie vertraute. Dem, was wir heute als Wissenschaftskommunikation bezeichnen, kam im zeitgenössischen Kontext eine erhebliche Bedeutung zu. So nutzte Nollet den Druck seines Reiseberichts, um sich vor den Augen der interessierten Öffentlichkeit als Experte im Bereich der noch im Entstehen begriffenen Wissenschaft um die Elektrizität zu präsentieren. Dabei trat er als Verteidiger der Wahrheit auf, der mit den Waffen, d.h. den Methoden der experimentellen Philosophie, gegen den in Italien zu dieser Zeit (angeblich) auch unter Gelehrten verbreiteten Wunderglauben focht.

Nachdem Bertucci im ersten von vier Hauptkapiteln die Spionagetätigkeit Nollets vor dem Hintergrund seiner sozialen Rolle als Gelehrter nachgeht, folgen Kapitel zur Bedeutung der Elektrizität als neuem Wissenschaftsfeld im Zeitalter der Aufklärung, der Bedeutung wissenschaftlicher Kontroversen im Zuge der Wissensproduktion sowie der Rolle der "Natural History" bei der Verbreitung und Konsolidierung von Stereotypen über Italien als "Land of Marvels".

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht Nollet in seiner Rolle als Gelehrter, die es ihm in Italien und insbesondere am Turiner Hof erlaubte, seinem eigentlichen Auftrag, der Informationsbeschaffung über die piemontesische Seidenindustrie, nachzugehen. So zeigt Bertucci, wie ihm der Deckmantel des gelehrten Interesses half, Zugang zu Orten zu finden, die Diplomaten oder Kaufleuten verschlossen geblieben wären. Um diese besondere Konstellation zu beschreiben, führt Bertucci den Begriff der "intelligent travel" ein. Ihr geht es dabei um die Spezifik des Settings und der Akteurskonstellationen, wobei hier durchaus zu fragen wäre, ob selbiges nicht auch durch den bereits etablierten Begriff der "open technique" (Liliane Hilaire-Pérez) erfasst werden könnte. Tatsächlich unterschieden sich, auch wenn der Begriff das suggeriert, Nollets Praktiken der Informationsbeschaffung kaum von anderen Fällen der Wirtschaftsspionage im 18. Jahrhundert. Daran ändert auch Bertuccis Befund nichts, nach dem in der zeitgenössischen Literatur der Terminus "Spion" im technischen Bereich unbekannt gewesen sei, sondern einzig "within the strategic domains commonly controlled by the state" Verwendung gefunden habe. Grundsätzlich lässt sich hier schließlich einwenden, dass technisches Wissen eng mit Ökonomie verbunden war und damit nicht erst vor dem Hintergrund merkantilistischer und kameralistischer Wirtschaftsförderung ausdrücklich zu diesen "strategic domains" gehörte.

Die Besonderheit des Fallbeispiels liegt also vielmehr darin, dass bzw. wie Nollet als Gelehrter auftrat. Denn Bertucci rückt unter diesem Blickwinkel einen Personenkreis in den Vordergrund, der mit Wirtschaftsspionage bisher - zumindest vor einem ersten Aufsatz Bertuccis zu Nollet - nicht in Verbindung gebracht worden war. [1] Wie sie zeigen kann, war für die Gelehrten nicht nur die übliche Vernetzung innerhalb Europas von Vorteil. Akteure wie Nollet standen offenbar auch bei ihren Zeitgenossen außer Verdacht, Wissen aus ökonomischen Gründen zu sammeln, was wohl auch daran lag, dass für sie die freie Zirkulation von Wissen als Zeichen moralischer Überlegenheit gegenüber der Welt der Kaufleute galt. Zudem waren wechselseitiger Informationsaustausch und Netzwerkbildung wertvoller als die sonst übliche Bestechung - von der Nollet freilich bei Unternehmern und Manufakturarbeitern durchaus Gebrauch machte.

Die folgenden drei Kapitel sind dann der "fabricated reality" gewidmet, die Nollet mit seinem Bericht schuf. Bertucci kann hier zeigen, wie er das Potenzial der noch jungen elektrischen Wissenschaften nutzte, um sich als Experte auf einem Gebiet zu inszenieren, das als "one of the emblems of enlightened modernity" (44) galt. Während in Wahrheit ein einziger Nachmittag ausgereicht hätte, um das Wunder um Pivatis elektrische Röhren zu dekonstruieren, entwarf Nollet für den Druck ein fiktives "philosophisches Duell", das angeblich seinen Italienaufenthalt geprägt habe. Diese europaweit verbreitete "fabricated reality" zeitigte nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf seine eigene Karriere, sondern auch auf die der mit ihm in Kontakt stehenden Gelehrten in Bologna, Perugia und Venedig, denen sich nun der Zugang zu neuen Korrespondenznetzwerken eröffnete. Dass Nollet sie - entgegen seiner eigentlichen Erfahrungen und Gespräche - pauschal als wundergläubig und rückständig dargestellt hatte, wirkte sich für sie nicht negativ aus. Vielmehr profitierten sie von ihrer Beteiligung an der erfundenen Kontroverse, die für die Leser wichtiger war als der eigentliche Prozess der Wissensproduktion. Nollet und seine italienischen Zeitgenossen waren sich ganz offensichtlich der Tatsache bewusst, dass nicht das gesprochene Wort oder private Korrespondenzen zu Anerkennung führten, sondern die Beteiligung an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Sie führte zur Sichtbarkeit. Nicht die an "Wahrheitsansprüchen" orientierte Darstellung von wissenschaftlichen Praktiken zählte hier. Stattdessen mussten die Erwartungen der Leser bedient werden. In einer Zeit des vermeintlich linearen und auf dem Siegeszug der Empirie fußenden Wissensfortschritts gehörte demnach auch bewusste Täuschung zu den Methoden der experimentellen Philosophie.

Dass die Glaubwürdigkeit einer solchen "fabricated reality" auch darauf basierte, dass verbreitete und aus der Reiseliteratur im 18. Jahrhundert bekannte Stereotype über Italien als Land der Wunder und ganz generell die Wundergläubigkeit der Italiener bedient wurden, ist dann nur noch ein Puzzleteil, das Bertuccis Erzählung von der zielgerichteten Nutzung von fake news im Kontext der Wissensproduktion im Zeitalter der Aufklärung so plausibel und erkenntnisfördernd macht.

Bertuccis Buch "In the Land of Marvels" bietet eine glänzende Analyse der Dynamiken von Wissensproduktion im 18. Jahrhundert, die nicht zuletzt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit verbreiteten Vorstellungen von Wissenschaft als Inbegriff von linearem Fortschritt einlädt. Ihr Appell, vor dem Hintergrund der für unsere Gegenwart leider prägenden Phänomene fake news und Verschwörungstheorien wissenschaftliche Erkenntnisse nicht bloß als solche zu verteidigen, sondern die Praktiken und Prozesse, die zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen, selbstbewusst offenzulegen, beschließt ein ungemein anregendes Buch, das nicht nur aus der Perspektive der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu weiterführenden Reflexionen anregt.


Anmerkung:

[1] Paola Bertucci: Enlightened Secrets: Silk, Intelligent Travel, and Industrial Espionage in Eighteenth-Century France, in: Technology & Culture 54 (4) (2013), 820-852.

Sebastian Becker