Rezension über:

Oliver Falk: Diabetes. Eine Wissensgeschichte der modernen Medizin 1900-1960, Göttingen: Wallstein 2023, 312 S., 4 Farb-, 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5347-3, EUR 45,00
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Rezension von:
Christian Sammer
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christian Sammer: Rezension von: Oliver Falk: Diabetes. Eine Wissensgeschichte der modernen Medizin 1900-1960, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8 [15.07.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/07/37990.html


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Oliver Falk: Diabetes

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Am Anfang der 1920er-Jahre kam das Insulin und veränderte alles in der Behandlung von Diabetiker:innen. Man muss eigentlich als Historiker:in nicht lange überlegen, um den Verdacht zu hegen und diesen vielleicht sogar schon in Analogiebildung zu erhärten, dass eine solche Geschichtserzählung, durch (Nobel)Preise und hagiografische Berichte gestützt, nicht richtig sein kann. Immerhin unterstellen Narrative dieser Art einen radikalen Bruch in der Geschichte von Krankheit und Kranksein durch eine einzelne Intervention - eine "silver bullet" oder einen "technical fix". Unsere eigenen persönlichen sowie die rezent kollektiven Erfahrungen mit Medizin und Therapie, beispielsweise mit der globalen Pandemie, deren Folgen nach wie vor anhalten, sollten uns misstrauisch gegenüber solchen Erzählungen machen.

Der Skepsis gegenüber den simplen Erfolgsgeschichten der Medizin gibt auch Oliver Falks Buchfassung seiner Dissertation zur Geschichte der Diabetes von drei Seiten her Nahrung. Strukturiert ist dieses Unterfangen thematisch mit aufeinander aufbauenden historischen Analysen der Erkrankung (Kapitel 3), des Insulins (Kapitel 4), der Patient:innen (Kapitel 5) sowie der therapeutischen Praktiken (Kapitel 6). Aus der ersten wissenschaftshistorischen Perspektive zeigt der Autor die oftmals übergangenen Probleme in der Vor- und Frühgeschichte des Laborwirkstoffs auf, bevor dieser zu einem stabilen, standardisierten, sicher applizierbaren, breit verfügbaren und in seinen Wirkungen absehbaren Therapeutikum werden konnte. Ebenso beleuchtet Falk die lange und komplizierte Geschichte der Klassifikation des Diabetes. Weder Stoff noch Krankheit waren fixierte Einheiten in einem eindeutig bestimmbaren Wirkungszusammenhang. Vielmehr wurde rasch deutlich und auch sozialmedizinisch problematisiert, dass der Diabetes ein für chronische Erkrankungen typisch zu werdendes physiologisch multifaktorielles und je individuelles Geschehen darstellte, sodass Insulin in der Praxis nur ein Spieler im höchst komplexen Wechselwirkungsgefüge wurde. [1] Als eine Geschichte der (Subjektivierung von) Patient:innen dekonstruiert Falk zweitens die Geschichte der Insulinrevolution. Er erreicht dies, indem er überzeugend darstellt, dass das eigentliche Therapiemanagement, das auch heute noch mit den zutiefst bürgerlichen Verhaltensidealen der Selbstbeobachtung, -dokumentation, -sorge und -disziplin einhergeht, sich bereits vor der Implementierung des Insulins etabliert hatte. Falk macht klar, dass die diätetisch-therapeutische Selbstkontrolle der Diabetespatient:innen durch Insulin nur verändert, nicht aber grundlegend umgeworfen wurde. Ganz im Gegenteil trug es durch die Chronifizierung des Diabetes mit den daraus folgenden sekundären Erkrankungen zur Notwendigkeit eines lebenslangen und variablen Therapiemanagements sogar noch bei. Genau an diesem Punkt des komplexen und notwendigerweise lebensweltlichen, alltäglichen Umgangs der Kranken mit ihren Erkrankungen laufen beide Perspektiven Falks - die der Wissenschafts- und Patientengeschichte - in einer dritten zusammen: einer praxeologisch informierten Wissensgeschichte der Begegnungen und Beziehungen zwischen Arzt* und Patient:in. Keine Frage, dieser Strang ist das argumentative Zentrum und ein Glanzstück in Oliver Falks Monografie.

Innovativ ist dieses Vorgehen auch deshalb, weil Falk das bisweilen in der Patientengeschichte der Medizingeschichte vorherrschende dichotome Unterstellungsverständnis von Arzt* und Patient:in mit Blick auf die epistemologische Rolle der Patient:innen für die klinische Therapie des Diabetes zu problematisieren versteht. So zeigt er überzeugend an Ego-Dokumenten sowie diabetologischen Dokumentations- und Aufschreibesystemen, dass Patient:innen in der klinischen Therapie der Diabetes auch durch eine sich zunehmend auf Labordaten fokussierende und damit vernaturwissenschaftlichende Medizin gerade nicht zum Schweigen gebracht wurden. Weil Insulin "nur" eine dauerhafte Behandlung ermöglichte, die nicht allein in klinischen Settings vorgenommen werden konnte, rückte die Frage nach den Bedingungen einer wirkungsvollen Therapie die Lebenswelt der Patient:innen in den Fokus. Das Befinden zu registrieren, die Nahrungsaufnahme zu dokumentieren und ihre Energiewerte zu bestimmen, den Blutzuckerspiegel in komplexen technischen Verfahren zu definieren und dann noch die richtige Menge Insulin zu spritzen bzw. den richtigen Energiewert zu sich zu nehmen, erforderte ein enormes Maß an Wissen, Kompetenz und Disziplin - an bürgerlichen Subjektivierungstugenden. Dabei warf nicht nur das Spritzen die Frage auf, wo die Fertigkeiten der Patient:innen zugunsten der ärztlichen Professionsansprüche zu begrenzen waren. Die Beziehung zwischen Arzt* und Patient:in geriet auch dadurch, so Falk, nicht auf Augenhöhe. Die Verantwortungszuschreibung auf die Seite der Patient:innen und die Deutungshoheit über das Geschehen beim Arzt* sorgten stattdessen für eine Machtasymmetrie im Sinne unterschiedlicher Handlungsermöglichungen zwischen den beiden Parteien. Doch die Notwendigkeit der lebensweltlichen und alltäglichen Behandlung der Erkrankten durch diese selbst erzwang zugleich deren medizinische Aufklärung und Anleitung - ihr selbsttherapeutisches Empowerment. Falk zufolge wurde diese therapeutische Befähigung der Patient:innen auch nochmals dadurch wichtig, als dass ihre Rückkopplungen in die Klinik sozial- und präventivmedizinische Mehrwerte produzieren sollten, indem sie therapeutische Wirkungs- und Verlaufsmuster erkennbar machten. Dafür mussten die Patient*innen aber wiederum durch Gespräche, Briefe oder Manuals in Stand gesetzt und motiviert werden, eine standardisierte Buchführung ihrer selbst vorzunehmen. Sie mussten sich selbst zu standardisierten und serialisierten Falldokumentationen machen und auf diese Weise Teil der klinischen Sammlung zur Mustererkennung in der physiologischen Vielfalt werden. In diesem klinischen Wissenssystem wurden die Patient:innen demnach nicht zum Schweigen, sondern vielmehr dazu gebracht, in einer bestimmten Weise zu denken, zu reden, zu schreiben und zu handeln. Sie wurden befähigt, mitreden zu können. Vielleicht liegt es auch daran, dass Diabetespatient:innen zu den ersten gehörten, dich sich als politisches Kollektiv verstanden und entsprechende Patientenvereinigungen gründeten, mit denen sie um gesellschaftliche Gleichstellung rangen. [2]

Oliver Falks exemplarische Wissensgeschichte der modernen Medizin ist ein inhaltlich überaus anregendes sowie insgesamt gut zu lesendes Buch. Es trägt dazu bei, mehr Dialektik und kritische Nuancierung in die Patientengeschichte zu bringen. Mit seinem Idealtypus des aktiven Patienten führt er sowohl in die Geschichte der klinischen Forschung als auch in die der Patient:innen ein innovatives Konzept ein, das für die im 20. Jahrhundert vorrangig problematisierten chronisch-degenerativen Erkrankungen von Gewinn zu sein verspricht. Gerade in der Ausweitung des Kompetenzbereichs der therapeutisch-klinischen Medizin in Richtung Prävention bleibt nämlich die (gesellschaftliche wie subjektive) Rolle und der Status der Patient:innen nach wie vor unterbeleuchtet - immerhin könnte man ja alle Jogger:innen und Fitnesstudiogänger:innen als aktive Patient:innen der Prävention bezeichnen, oder etwa nicht? [3] Bei diesen Vorzügen lässt sich auch das kleine Manko hinnehmen, dass dem Buch nochmals ein Endlektorat gut getan hätte, das nicht nur die wenigen Satz-, Zeichen- und Rechtschreibfehler beseitigen, sondern auch Redundanzen, ja sogar wörtliche Wiederholungen, hätte tilgen können. Auch erscheint es nicht restlos notwendig, dass eine Arbeit wie die von Falk fast 70 Seiten theoretischen Vorlauf mit seinem kulturwissenschaftlichen Jargon beinhaltet, der dann wiederum immer wieder ausladend in den folgenden Kapitel zur Einführung herangezogen wird. Dass Falk zugleich auch nicht bei der Rekonstruktion der Patient:innenerfahrung in die Tiefe geht und diese im Detail mit jeweiligen Aufschreibe- und Versorgungssystemen in Beziehung setzt, ist hinsichtlich des Zuschnitts seiner Arbeit verzeihlich. Nein, mehr als das, es ist gerechtfertigt. Denn bei der Lektüre dieser Wissensgeschichte der modernen Medizin ist etwas zu lernen, von wo aus es sich weiterzudenken lohnt - und Vergnügen bereitet die Lektüre des Buches auch noch.


Anmerkungen:

[1] George Weisz: Chronic Disease in the Twentieth Century. A History, Baltimore, MD 2014.

[2] Ylva Söderfeldt (Hg.): Krankheit verbindet. Strategien und Strukturen deutscher Patientenvereine im 20. Jahrhundert (= MedGG - Beiheft; Bd. 74), Stuttgart 2020; Livia Prüll: Zwischen Stigmatisierung und Akzeptanz: Diabeteskranke und Verbeamtung in Westdeutschland, 1950-1970, in: NTM 30 (2022), 63-88.

[3] Martin Lengwiler / Jeannette Madarász (Hgg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik (= VerKörperungen; Bd. 9), Bielefeld 2010.

Christian Sammer