Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990, München: C.H.Beck 2024, 719 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-82210-0, EUR 34,00
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Diese überaus sorgfältige Darstellung der deutschen Russlandpolitik von der Wiedervereinigung bis zum russischen Überfall auf die Ukraine gehört zu den Büchern, die man zur ersten Orientierung am besten zunächst vom Schluss her liest. Den Anstoß für sein Buch lieferte dem Autor die russische Vollinvasion der Ukraine von 2022. Seine Leitfrage lautet: Wieweit kann die deutsche Russland-Politik für das Scheitern der Hoffnungen auf das vielbeschworene gemeinsame europäische Haus und indirekt auch für den Ausbruch des Krieges in der Ukraine mitverantwortlich gemacht werden? Zweifellos eine der Grundfragen der jüngsten Zeitgeschichte! Für seine Antwort stützt sich Bastian Matteo Scianna auf deutsche wie nicht-deutsche öffentliche Quellen aus Presse und Meinungsumfragen, darüber hinaus aber auch auf bisher unzugängliche Überlieferungen wie Botschaftsberichte oder die Protokolle der CDU/CSU-Fraktionssitzungen. Seine Untersuchung ist sorgfältig belegt, ein Literaturverzeichnis fehlt leider im Buch und ist, wenig nutzerfreundlich, ins Internet ausgelagert.
Nach einem knappen Rückblick auf die nach dem Urteil des Autors recht erfolgreiche deutsche Russlandpolitik von der Konvention von Tauroggen über die Weimarer Republik, die Ära Brandt sowie die Wende von 1989/90 bis zur Auflösung der Sowjetunion beginnt der Hauptteil des Buches mit der Präsidentschaft Jelzins und den Bemühungen des Westens und Deutschlands, Russland mit dem Verlust seiner im Zweiten Weltkrieg errungenen osteuropäischen Herrschaftsstellung zu versöhnen und sich, gleichzeitig und anders als Jugoslawien, als ein prosperierender und demokratischer Staat zu konsolidieren. Bereits die blutige russische Rückeroberung Tschetscheniens stellte dies in Frage. Die NATO-Osterweiterung geriet dann in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu dem Bestreben Putins, Russlands europäische Hegemonialstellung durch den Rückgewinn seiner Kontrolle über Ost- und Mitteleuropa wiederherzustellen.
Schon den Krieg, den Russland 1994-1996 gegen die aufständischen Tschetschenen führte - auch damals Spezialoperation genannt, - billigte der Westen nicht wirklich. Alle westlichen Bemühungen, mithilfe von neu geschaffenen Gremien, Russland in dem sogenannten europäischen Haus zu integrieren, scheiterten an dem Interessenkonflikt, dass der Westen zusammen mit Russland 1997 zwar ein Konsultationsabkommen, die NATO-Russland-Grundakte, abschloss, mit der Russland seinerseits hoffte, die Zukunft Europas, vielleicht sogar in der NATO, mitbestimmen zu können. Das lehnte der Westen aber immer ab. Stattdessen wurden, trotz deutlicher russischer Vorbehalte, Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen. Wie der Autor zeigt, waren daran schon Helmut Kohls Bemühungen, das neue Russland in die westliche Welt zu integrieren, gescheitert - eine bloße Anbindung Russlands an den Westen erschien ihm nur als "zweitbeste Lösung" im Vergleich zu der erhofften gesamteuropäischen Friedensordnung (149).
Kohls Nachfolger Gerhard Schröder stand den deutsch-russischen Beziehungen anfangs nüchterner gegenüber: Den russischen Wunsch nach einem Schuldenerlass wies er ab und setzte dagegen auf gemeinsame Wirtschaftsinteressen. Auch Schröder übersah nicht die fragile Lage im Innern Russlands, fand sich schließlich aber mit Putins repressiver Innenpolitik ab. Der terroristische Anschlag vom 11. September 2001 auf die New Yorker Twin Towers führte West und Ost noch einmal zusammen, ohne dass der Westen jedoch Putins Tschetschenienkrieg als antiterroristisch anerkannte, wie dieser wünschte. Dafür kooperierten die Bundesrepublik und die USA eng im Anti-Terror-Krieg in Afghanistan. Mittlerweile kamen sich Schröder und Putin persönlich näher: Am 25. September 2001 beschwor Putin vor dem Bundestag in einer deutschsprachigen Rede noch einmal die Vision eines "gemeinsamen russisch-europäischen Hauses" (213), offenbar jedoch ohne die USA.
Diesem neuen Einvernehmen kam 2004 die weitere NATO-Osterweiterung in die Quere, auch wenn Putin auf sie noch maßvoll reagierte. Russland durfte der Gruppe der sieben führenden Industriemächte beitreten (fortan G 8) - für Schröder ein Symbol einer deutsch-russischen "strategischen" Partnerschaft (225). Als 2003 der von US-Präsident Bush erklärte Krieg gegen den Irak ausbrach, verweigerte Schröder zusammen mit Frankreich und Russland den USA die Gefolgschaft - für den Verfasser ein grundsätzlicher außenpolitischer Kurswechsel, dem nach Umfragen aber die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zustimmte. Im Einklang damit befürwortete Schröder ein Zurückdrängen der USA in eine "multilaterale" Weltenordnung, in der Russland ein "primus inter pares der neuen Partner Deutschlands" (251) werden sollte. Insgesamt war Putin für ihn ein "lupenreiner Demokrat" geworden (262). Auf den militärischen Schutzschirm der NATO wollte Schröder bei alledem freilich nicht verzichten. Die Farbenrevolution in der Ukraine, Putins vergeblicher Versuch, die Ukraine wieder von Russland abhängig zu machen, sowie dessen rückblickende Verurteilung der Wende von 1990/91 und deren Folgen als die "schlimmste geopolitische Katastrophe" (268) im 20. Jahrhundert änderten nichts an Schröders gaullistischen, das heißt nicht von Amerika abhängigen, Option für einen deutschen Sonderweg zwischen Russland und dem Westen.
Zu dieser Option gehörte nun auch das von Schröder aufgegriffene Projekt North Stream, einer direkten Gasleitung von Russland in die Bundesrepublik, dem der Verfasser besonders gründlich nachgeht. Mit diesem Vorhaben, für Scianna ein Abweg, verbanden beide Länder unterschiedlichen Absichten: Für Putin war es "eine strategische Weichenstellung", für die Bundesregierung, bis zum russischen Überfall auf die Ukraine, ein ausschließlich "wirtschaftliches Projekt" (272 f.). 2005 wurde ein zweiter Leitungsstrang beschlossen - auf Putins Wunsch mit Schröder als Aufsichtsratsvorsitzendem.
Schröders Nachfolgerin Angela Merkel stand an sich, wie der Verfasser unterstreicht, Putins Russland und diesem persönlich erheblich kritischer gegenüber. Sie lehnte ab, sich wie Schröder Russland allein und vor allem unter Ausschluss der USA anzunähern. Mehrfach verurteilte sie die russische Abwendung vom demokratischen Rechtsstaat sowie den Versuch Putins, sich Georgien militärisch zu unterwerfen und die Ukraine wieder an Russland zu binden. Die sofortige NATO-Mitgliedschaft für die beiden Staaten lehnte Merkel wegen deren mangelnder Rechtsstaatlichkeit und innerer Instabilität allerdings ab. Priorität besaß für die Bundeskanzlerin ein kurzfristiges Krisenmanagement, um eine Ausweitung der Krisen, wie sie Russland zum Beispiel 2008 durch den Einmarsch in Georgien ausgelöst hatte, im Interesse einer weiteren - für Scianna utopischen - "Modernisierungspartnerschaft" zu verhindern (383). Energiepolitisch wollte sie Russland "stärker in die Pflicht" nehmen. Dass sie den Draht nach Moskau trotzdem nicht kappen wollte, zeigte ihre Reaktion auf die russische Besetzung der Krim 2014. Diese und später den russischen Einmarsch in die Ostukraine verurteilte sie als Völkerrechtsbrüche, militärische Sanktionen oder gar Waffenlieferungen an die Ukraine blieben bei ihr wie in der gesamten Europäische Union jedoch tabu. Versuche, diesen "eingefrorenen" (268) Krieg diplomatisch zu beenden (vor allem durch das Minsker Abkommen zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und der Bundesrepublik, aber ohne die USA) schlugen fehl.
Wichtig blieb für Merkel die deutsche Gaseinfuhr aus Russland. Diese war 2018 auf 55 Prozent des deutschen Gesamtverbrauchs gestiegen. Der 2018 begonnene Bau einer zweiten Pipeline blieb ein unter Schröders Einfluss und zuletzt noch von der Regierung Scholz vorangetriebenes Vorhaben. Die daraufhin sich verschlechternden deutsch-osteuropäischen Beziehungen, besonders zu Polen, nahm die Kanzlerin in Kauf.
Wie seit Ende 2021 warnend von den USA vorausgesagt, überfiel Putin am 24. Februar 2022 die Ukraine. Die illusionären deutschen Hoffnungen auf eine Einbindung Russlands in die westliche Völkergemeinschaft waren damit gescheitert: Der deutsche Sonderzug nach Moskau war entgleist. Für den Autor ist dafür an erster Stelle Putin verantwortlich, der den Zusammenbruch der UdSSR und den russischen Rückzug aus Osteuropa um jeden Preis rückgängig machen wollte, und erst an zweiter Stelle der Westen mit seiner Arglosigkeit gegenüber diesem neuen Russland Putins und der Überschätzung der Handelspolitik als Friedensgarantie.
Die künftige Geschichtsschreibung und Politik werden gut daran tun, dieses Fazit einer eingehenden und überzeugenden Darstellung im Auge zu behalten.
Klaus Schwabe