Rezension über:

Jan Logemann / Stefanie Middendorf / Laura Rischbieter (Hgg.): Schulden machen. Praktiken der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2023, 399 S., 7 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51578-6, EUR 29,00
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Rezension von:
Peter Kramper
Universität Bielefeld
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Empfohlene Zitierweise:
Peter Kramper: Rezension von: Jan Logemann / Stefanie Middendorf / Laura Rischbieter (Hgg.): Schulden machen. Praktiken der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/38577.html


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Jan Logemann / Stefanie Middendorf / Laura Rischbieter (Hgg.): Schulden machen

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Selten hat ein Thema die politische Öffentlichkeit der Bundesrepublik so bewegt wie die jüngsten Lockerungen der "Schuldenbremse". In der wissenschaftlichen Debatte spielt das staatliche Schuldenwesen indes schon seit der Finanzkrise von 2007/08 eine hervorgehobene Rolle. Dabei stehen vor allem makroökonomische Probleme wie der Zusammenhang zwischen der Staatsschuldenquote und dem wirtschaftlichen Wachstum im Fokus der Aufmerksamkeit.

Der vorliegende Band, der aus einem interdisziplinären DFG-Netzwerk hervorgegangen ist, touchiert diese Frage aber nur am Rande. Anstelle der Auswirkungen der Staatsverschuldung untersucht er die mit ihr verbunden Praktiken. Wie genau gehen Staaten vor, wenn sie sich Kredit verschaffen wollen? Welche Akteurinnen und Akteure sind dafür von Bedeutung, welche Infrastrukturen nutzen sie und welche Debatten werden über diese Fragen geführt? Wie der Band zeigt, eignet sich diese Optik hervorragend, um das Thema historisch zu fundieren und für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen zu öffnen.

Der zeitliche Fokus liegt dabei auf dem "langen" 20. Jahrhundert. Die Institutionalisierung der Kreditbeziehungen im Zeitraum zwischen 1880 und 1914 habe, so erläutern die Herausgeberinnen und Herausgeber in ihrer Einleitung, den staatlichen Kredit professionalisiert, aber auch popularisiert und seine Gläubigerbasis ausgeweitet. Diese Konstellation sei zwar im Laufe des 20. Jahrhunderts durch "säkulare Basisprozesse" (17) wie die zunehmende Vermarktlichung der Schulden modifiziert worden, in ihren Grundzügen bestehe sie aber bis heute.

Konkretisiert wird diese Diagnose in 19 überwiegend auf Europa und Nordamerika konzentrierten Einzelbeiträgen, die in fünf Abschnitte gegliedert sind. Der erste Abschnitt widmet sich den Akteurinnen und Akteuren der Staatsverschuldung: den Staaten selbst, den Zentralbanken als "heimliche[n] Protagonisten des staatlichen Schuldenmanagements" (Leon Wansleben), den Geschäftsbanken, den institutionellen Investorinnen und Investoren und den Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern. Deutlich wird in diesen Beiträgen, welch starken Veränderungen die genannten Gruppen seit den 1970er Jahren ausgesetzt waren. Globalisierte und liberalisierte Finanzmärkte eröffneten potentiellen Geldgeberinnen und Geldgebern neue Anlagemöglichkeiten. Aus der Sicht der Schuldnerinnen und Schuldner verschärften sie hingegen den Wettbewerb um den Absatz ihrer Papiere.

Zu dieser Entwicklung trugen auch Artefakte der Staatsverschuldung bei, die im zweiten Abschnitt untersucht werden. Tim Neus Beitrag zu den Kerbhölzern, mit deren Hilfe der britische Exchequer im 17. und 18. Jahrhundert seine Schulden verwaltete, greift sehr weit hinter den Betrachtungszeitraum des Bandes zurück. Dafür veranschaulicht er die Relevanz dieser "Staatsschulden-Dinge" (128) umso besser. Arjen van der Heides Ausführungen zu Handelsinfrastrukturen wie Onlineplattformen leisten Ähnliches für das 20. und 21. Jahrhundert. Auf einer etwas anderen Ebene liegen die weiteren Beiträge zum Aufstieg und Fall von Swaps als Instrumenten des kommunalen Schuldenmanagements und zu den öffentlich platzierten Schuldenuhren. Letztere fungierten seit den 1990er Jahren als sichtbare Vergegenwärtigungen der staatlichen Verschuldungspraxis.

Der dritte Abschnitt thematisiert politische Debatten über die Staatsverschuldung. Ob solche Debatten auch Praktiken sind, ließe sich diskutieren. Dass ihre Einbeziehung dem Band guttut, ist aber offenkundig. Lukas Hafferts politikwissenschaftlich gefärbte Darstellung der parlamentarischen Auseinandersetzungen über den Haushalt in Großbritannien und in Deutschland führt nah an gegenwärtige Problemlagen heran. Die weiteren Fallstudien zu Umschuldungen, zur "narrativen Konstruktion finanzieller Solidität" (Heike Wieters) am Beispiel des SPD-Finanzministers Alex Möller und zur Frage des Schuldenerlasses in internationalen Kreditbeziehungen argumentieren stärker historisch und zeigen langfristige Veränderungen im Umgang mit diesen Problemen auf.

Der vierte Abschnitt beleuchtet Machtbeziehungen, die mit Verschuldungspraktiken einhergehen. Sebastian Teupe schildert die imperialistische "Kanonenbootdiplomatie" und konstatiert, dass Gläubigerinteressen für sie nur eine untergeordnete Rolle spielten. Korinna Schönhärl analysiert die internationalen Finanzkontrollen, denen Griechenland im späten 19. Jahrhundert unterworfen war und zieht gewinnbringende Vergleiche zu heutigen Arrangements. Schließlich kommen auch koloniale Macht- und Schuldenbeziehungen zur Sprache, wobei insbesondere die Übersetzungsprobleme zwischen den unterschiedlichen Wertmaßstäben von Kolonisatorinnen und Kolonisatoren und Kolonisierten Beachtung finden.

Der fünfte und letzte Abschnitt stellt die zeitliche Dimension von Verschuldungspraktiken ins Zentrum der Betrachtung. Empirisch geht es dabei um die Laufzeitenverkürzungen für festverzinsliche Schuldverschreibungen, die in den 1970er Jahren zu beobachten waren, und um das Londoner Schuldenabkommen von 1953. Es sicherte der Bundesrepublik ihre Bonität, schuf aber auch Verpflichtungen, die bis ins Jahr 2010 reichten. Jakob Tanners abschließender Beitrag zur "Generationengerechtigkeit" ist eher ein politischer Essay als eine historische Untersuchung. Er hebt die Notwendigkeit von Investitionen in die ökologische Transformation hervor und hält die Befürchtung, Staatsschulden seien eine Belastung für zukünftige Generationen, für unbegründet.

Auch einige andere Beiträge stehen orthodoxen Positionen zur Staatsverschuldung kritisch gegenüber. Es ginge aber an der Intention des Bandes vorbei, diesen Befund einseitig hervorzuheben. Wichtiger ist, dass hier eine gut zugängliche Sammlung von anschaulichen Fallbeispielen vorliegt. Autorinnen und Autoren sowie Herausgeberinnen und Herausgeber haben viel dafür getan, um sie auch für Laien zu erschließen. Die Beiträge sind relativ kurz und (überwiegend) gut verständlich. Hinzu kommt ein sehr nützliches Glossar, das finanztechnische Begrifflichkeiten erläutert. Getrübt wird das Bild nur durch das etwas schlampige Literaturverzeichnis. Einige Titel aus den Fußnoten sucht man dort vergebens.

Inhaltlich ist der Band, der eher ein Lesebuch als eine stringente Abhandlung darstellt, überzeugend. Über die These der Herausgeberinnen und Herausgeber, dass langfristige Prozesse für die Praktiken der Staatsverschuldung wichtiger waren als Zäsuren, lässt sich angesichts der vielen Beiträge, die die Umbrüche der 1970er Jahre betonen, sicher streiten. Und dass die Verschuldungspraktiken des globalen Südens und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RWG) keinen rechten Platz finden, ist zwar arbeitspragmatisch nachvollziehbar, aber dennoch etwas bedauerlich. Trotzdem kann ich das Buch allen, die an einer historischen Perspektive auf dieses höchst aktuelle Thema interessiert sind, sehr empfehlen.

Peter Kramper