Rezension über:

Stefanie Middendorf: Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919-1945), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 585 S., ISBN 978-3-1107-1218-6, EUR 49,95
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Rezension von:
Rüdiger Hachtmann
Berlin / Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Hachtmann: Rezension von: Stefanie Middendorf: Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919-1945), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/36594.html


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Stefanie Middendorf: Macht der Ausnahme

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Mehr noch als andere Monographien zur Geschichte von Ministerien und sonstigen Behörden verlässt Stefanie Middendorfs Habilitationsschrift ausgetretene Pfade der Verwaltungsgeschichte. Sie zeigt über den konkreten Untersuchungsgegenstand "Reichsfinanzministerium 1919 bis 1945" hinaus, dass die Geschichte von Ministerien und anderen Behörden breiten Raum für neue, innovative Zugänge bieten kann.

Eine nur scheinbar selbstverständliche Prämisse ihrer Untersuchung ist die "grundsätzliche Historizität jeder Staatlichkeit", vor allem in Zeiten tiefer Krisen. In ihrer Einleitung verwirft Middendorf deshalb völlig zurecht die Orientierung vieler Verwaltungshistoriker an der "Weberianischen Anstaltsstaatlichkeit" als überzeitliches normsetzendem Ideal und die Fiktion einer "neutralen Überparteilichkeit des Regierungsapparates". Im Zentrum ihres Buches thematisiert sie denn auch ausführlich "die genuin politische Dimension exekutiver Praxis" - entgegen der ministerialbürokratischen Selbststilisierung "neutraler Sachlichkeit" (12 f., 16). Die These von den Ministerien und anderen hohen Staatsbehörden als 'unpolitischen' Exekutivorganen ohne eigenen Willen - die nicht zufällig nach 1945 reüssierte - kaschiere, so Middendorf, mindestens für die 'Zwischenkriegszeit' "die ausgeprägte Tendenz der Bürokratie, sich selbst zu ermächtigen" (19). Gerade das Finanzressort sei keine "Hauptbuchhaltung des Regimes" und die Ministerialbeamten seien keine "gutgläubig-naiven Experten" gewesen (21). Die Ausgangsthese einer stabilen, von der politisch-gesellschaftlichen 'Umwelt' nicht oder kaum tangierten 'normalen Institution' und das entsprechende "Begriffsarsenal" jüngerer organisationssoziologischer Ansätze tauge letztlich nicht für "die Darstellung der historischen Dynamik, Widersprüchlichkeit und Umstrittenheit [auch innerer] organisationaler Entscheidungsprogramme" (26 f.).

Middendorf untersucht in drei vornehmlich chronologisch strukturierten Teilen, "wie die Ministerialbürokratie im Prozess der Staatsbildung selbst regelverändernd, regelbrechend oder regelbildend wirkte" (28). Ihre Darstellung misst der Weimarer Republik ein größeres Gewicht zu als dem Dritten Reich. Die Schwerpunkte setzt sie auf zentrale "Schwellenmomente": zunächst auf die "Übergangswirtschaft 1919 bis 1923" (Teil I), die vermeintliche "Normalisierungspolitik" des inzwischen etablierten Finanzministeriums um 1926 (Teil II) sowie unter dem schönen Titel "Ausweitung der Kampfzone" den gesamten Zeitraum 1930 bis 1939 (Teil III), mit einem "Epilog" zum Krieg. Ihr empirisches Hauptthema ist zwar die Reichshaushaltsplanung. Jedoch geht es Middendorf nicht primär um deren quantitative Rekonstruktion, sondern vor allem um ministeriale Verfahrensweisen und die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Konstellationen als Bedingungsrahmen. Ich beschränke mich hier auf die Skizzierung einiger wichtiger Ergebnisse.

Weil sich die erste deutsche Republik in einem "beständigen Krisenmodus" befand, rückt Middendorf "die Prägekraft der permanent prekären, keineswegs rational 'geordneten' Existenz des Weimarer Staates" (23) in das Zentrum ihrer Untersuchung. Von seiner Gründung als Ministerium an agierte das Finanzressort in einem Spannungsfeld zwischen parlamentarischer Demokratie und autoritären 'Verlockungen' (wie z.B. den Ermächtigungsgesetzen ab Anfang der 1920er-Jahre). Middendorf arbeitet heraus, dass die kurzfristig angelegten "Taktiken des Regierens im Ausnahmezustand", die während des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der Inflation üblich wurden, in der Folgezeit "zur Basis grundlegender Reformakte" wurden (41). Krisen prägten das Handeln, Denken und auch die politische Agenda der ministerialen Akteure und viele der eingeführten "provisorischen Normen" sollten sich "als beständig erweisen" (482). So stellte beispielsweise die Reichshaushaltsordnung vom Dezember 1922 langfristig Weichen. Mit ihr wurde "erstmals ein weitreichendes Vetorecht des Reichsfinanzministers fest[ge]legt, das bis heute fortbesteht" (129; vgl. 113 ff.). Die einschlägige Verordnung von Anfang November 1923 sprach unter dem Diktum eines rabiaten Sparsamkeitsgebots "den Haushaltsreferenten in den anderen Ressorts umfangreiche Entscheidungskompetenzen zu" (119 ff., 178 ff.). Die eigentlich auf kurze Sicht konzipierten Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation wertet Middendorf als Musterbeispiel für eine dauerhafte "Transformation von Staatstechniken" (125).

Gravierende Folgen hatte der ministerialbürokratische Umgang mit der galoppierenden Inflation auch auf anderen Ebenen: Middendorf macht u.a. auf die nachhaltige und fatale Wirkung der historiographisch unterbelichteten Personalabbau-Verordnung vom 27. Oktober 1923 aufmerksam. Diese erlaubte nicht nur die komplikationslose Entlassung von weiblichen Angestellten und Beamten - und nahm damit ähnliche Restriktionen zwischen 1931 und Ende 1933 vorweg. Auch zahllose männliche Angestellte und selbst (jüngere) Beamte wurden entlassen - und so in eine scharfe Gegnerschaft zur parlamentarischen Demokratie Weimars getrieben (186ff.). Dies schloss auch die tonangebende hohe Beamtenschaft ein, wie der genaue Blick Middendorfs auf die Quellen zeigt, in denen sich bereits ab dem Ende der 1920er-Jahre ein "bellizistischer Tenor" feststellen lässt. Schon deutlich vor der "Machtergreifung" fiel das Finanzressort "immer häufiger" durch die "politische Betätigung seiner Beamten im rechten Spektrum" auf. Bereits in den Jahren der Präsidialdiktatur Hindenburgs wirkte auf viele Ministerialbeamte "die mit dem Selbstverständnis des Nationalsozialismus als Kampfgemeinschaft verbundene Dynamik [...] anziehend". Ausschlaggebend dafür, dass Sympathie für und Zusammenarbeit mit der NSDAP dennoch nicht in einer nominellen Parteizugehörigkeit ihren Ausdruck fanden, waren das Selbstbild der Beamten: der Stolz auf die vorgeblich ausschließlich 'sachbezogene' eigene "Leistungsfähigkeit" sowie ein reduktionistisches Politikverständnis, für das 'Politik' gleichbedeutend mit 'Parteienhader' war (318, 349).

Praktisch hatte die Ministerialbürokratie dem NS-System vorgearbeitet, schon bis 1930. Den zweiten Teil ihrer Studie resümiert Middendorf mit den Worten, dass selbst in den gern als "normal" klassifizierten "mittleren Jahre der Republik" die "Exekutive weiterhin Ausnahmeregelungen suchte", wenn auch "nicht mehr im Ausmaß der Krisenjahre 1919 bis 1923" (248). Der Ausnahmezustand war zu einem liebgewordenen Hebel geworden, von dem man nicht lassen wollte. Vor allem die Hindenburg-Diktatur glich einem "Laboratorium von Ausnahmegewalten" (249). Das Finanzressort sei bei dieser Transformation kein passives Objekt, sondern im Gegenteil eine "treibende Kraft des Übergangs zur Diktatur" (37) gewesen.

Der Begriff der "Kampfzone" wiederum, den Middendorf in die Überschrift des dritten Teils aufgenommen hat, bedeutete nicht, dass jeder gegen jeden 'kämpfte'. Rivalitäten schlossen Kooperationen und Bündnisse keineswegs aus. Middendorf zeigt dies anschaulich am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen dem Finanzressort und dem Ende 1922 eingesetzten Reichssparkommissar Friedrich Saemisch, der auch den Reichsrechnungshof führte. Das komplexe Verhältnis der beiden Institutionen und ihrer Repräsentanten zueinander markiert die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz zentralstaatlicher Herrschaftsträger, die die Dynamik des Dritten Reiches zwar wesentlich mitbedingte, aber auch schon vor 1933 ausgeprägt war.

Während der nationalsozialistischen Diktatur sei das Reichsfinanzministerium deshalb ein "bedeutender Akteur" geblieben - so ein Resümee Middendorfs - weil sein "Unterbau die Fähigkeit zur Flexibilität, die das nationalsozialistische Regime verlangte, schon mitbrachte".(489). Die Frage ist, ob die in der Weimarer Republik erworbene Flexibilität für einen erfolgreichen Umgang mit den 'neuen Herren' für den gesamten Zeitraum bis 1945 ausreichte. Middendorf selbst verweist auf die hohe Bedeutung der Zäsuren, die das Regime setzte. So stellt sie zu Recht fest, dass "das Jahr 1938 wohl ein entscheidenderes Datum als die Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933" gewesen sein könnte und skizziert ausführlich interne Umstrukturierungen und die "Finanzierungswende" im Haushaltsjahr 1938/39 (493).

Meine erste kritische Nachfrage wäre, ob nicht das bereits seit 1936, mit der Ernennung Görings zum Beauftragten für den Vierjahresplan sichtbar werdende "zunehmende Wegbrechen des Rechtsstaates und internationaler Maßstäbe als Sichtachsen" (489) sowie die raschen Veränderungen der Tektonik des NS-Herrschaftssystems auch die Stellung des Finanzressorts insgesamt veränderten und seine Position auf den großen politischen Bühnen des Dritten Reiches unterminierten. Die Expansion zum Großdeutschen Reich und der Kriegsbeginn verwiesen auch das Finanzministerium in die zweite Reihe. In diesem Zusammenhang wäre es angebracht gewesen, die von Middendorf nur angedeutete Transformation des NS-Systems zu einer grundlegend Neuen Staatlichkeit gerade für die Zeit 1936/38 genauer in Augenschein zu nehmen. Natürlich betont die Verfasserin zu Recht, dass manche Elemente der Neuen Staatlichkeit schon vor 1933 ausgebildet wurden. So hatte sich der Institution der (Sonder-)Kommissare bereits der monarchische Absolutismus bedient, um sich im 17. und 18. Jahrhundert gegen altständische 'Verwaltungen' durchzusetzen. Von ihnen, aber auch von den Sonderkommissaren der Endphase des Ersten Weltkriegs sowie der frühen und späten Weimarer Republik unterschieden sich die ab 1933 eingesetzten führerunmittelbaren Sonderkommissare allerdings deutlich. Ebenso war es ein Novum, dass sich Massenorganisationen einer Partei wie z.B. SS oder DAF staatliche Kompetenzen anmaßten und teilweise auch nominell erhielten. Trotz älterer Vorläufer wandelten sich zudem Formen und Strukturen der Informationsbeschaffung, der Kommunikation und schließlich der Koordination zwischen den Herrschaftsträgern fundamental. Es entwickelte sich Melange an 'Staatlichkeit', die sich mit simplifizierenden Termini wie 'Partei' und 'Staat' nicht einfangen lässt. Sie war kalkuliert improvisiert und unterschied sich von allen bisher bekannten Staatsformen. Ich hätte mir eine detailliertere Einordnung von Politik und Praxis des Finanzministeriums in diesen grundlegend veränderten Kontext von Staatlichkeit und damit eine auch empirisch dichtere Platzierung der "Transformation von Verwaltungstechniken", rückgebunden an die sich rasant verschiebende NS-Herrschaftstektonik, gewünscht.

Skeptisch bin ich außerdem gegenüber dem Ansatz Middendorfs, den "Ausnahmezustand" zum kategorialen Ausgangs- und Fluchtpunkt der Studie - die ja den gesamten Zeitraum zwischen 1919 und 1939/45 thematisiert - zu machen. Für Überblicksstudien, die die unterschiedlichen Entwicklungen in den beiden Hälften des 20. Jahrhunderts konturieren wollen, mag dies sinnvoll sein. Für die "Zwischenkriegszeit" ist dies jedoch von bestenfalls begrenztem heuristischen Wert. Zweifellos entfaltete der "Modus der Ausnahme [...] eine systemtransformierende Macht" (478). Indes waren sämtliche Jahre zwischen 1914 und 1945/49 zumindest für die Akteure Jahre eines "Ausnahmezustands". Von einem "Normalzustand" war 'man' weit entfernt, selbst in den Goldenen Zwanzigern 1925 bis 1929, wie Middendorf selbst überzeugend zeigt. Durch die "Fragilität rechtsstaatlicher Ordnung" verlor der "Ausnahmezustand" "seinen Charakter als 'spezielle Kategorie'" (495). Er wurde paradoxerweise selbst zum "Normalzustand".

Sinnvollerweise müsste man für die dreieinhalb Jahrzehnte bis zur Jahrhundertmitte von einer Kette von Ausnahmezuständen sprechen. Interessant wäre es also nicht, den 'Ausnahmezustand an sich' ins Zentrum zu rücken, sondern die Qualität der verschiedenen 'Ausnahmezustände' auszuloten. Empirisch löst Middendorf genau dies ein. Gleichwohl zeigt sich in ihrer Darstellung, dass der grundsätzlich sinnvolle Rekurs auf "zeitgenössische Staatssemantiken" (26), etwa eines (in der Monographie häufig zitierten) Carl Schmitt, an Grenzen stößt. Die spezifischen Strukturen der freilich auch ausgesprochen dynamischen NS-Staatlichkeit bleiben in den einschlägigen Passagen des Buches infolgedessen unscharf. Nur ein Aspekt für viele: Mindestens zu relativieren ist das Diktum vom "eher schwindenden Länderpartikularismus und gelegentlichen 'Extratouren' regionaler Führungskräfte" (436). Der Eindruck eines 'schwindenden' Föderalismus kann nur entstehen, wenn man lediglich den Zeitraum bis 1938 fokussiert. Bereits mit der Angliederung Österreichs und dann vor allem während des Krieges gewannen die NSDAP-Gauleiter erheblich an Macht - ohne dass dadurch allerdings 'Zentralität' gänzlich ausgehebelt worden wäre. Es entstand vielmehr ein je nach Ressort variabler Dualismus zwischen Reich und Ländern (sowie Kommunen), der zudem durch eine Vielzahl scheinbar außerstaatlicher Akteure weiter aufsplitterte. Entgegen ihrer These vom "schwindenden Länderpartikularismus" bestätigt Middendorf selbst empirisch diese auf vielen Feldern zu beobachtenden Tendenz, indem sie für ihren Untersuchungsgegenstand, eine "Verwandlung der Haushaltspolitik in eine Arena [konstatiert], in der sich immer mehr Akteure mit unklaren Regeln gegenübertraten" (443). Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass die Verfasserin die Politik und die Rolle des Finanzministeriums innerhalb des NS-Gesamtgefüges ab 1939 nicht ausführlicher in Augenschein nimmt. Sie begnügt sich hier eher mit lakonischen Hinweisen, etwa dem, dass das Finanzministerium allein deshalb an Einfluss verlor, weil es "nicht mehr um die Verfügbarkeit von Geld, sondern um die Verfügbarkeit von Gütern und Arbeitskraft" ging (442).

Rezensenten sollten Wunschzettel schreiben dürfen: Mein Hauptwunsch wäre ein genauerer Blick auf die Akteure, ihre beruflich-akademische Sozialisation und ihre 'Mentalitäten'. Middendorf stellt 'nur' die (schon weitgehend bekannten) Hauptakteure des Finanzministeriums ausführlicher vor, nicht dagegen die oft zwar 'namenlosen', aber für die Meinungsbildung innerhalb des Ministeriums und dessen Praxis vielfach ebenfalls eminent wichtigen anderen - hohen - Beamten. Zudem konstatiert sie zwar allgemein, dass "die Verantwortlichen auf Erfahrungen aus der Zeit des Kaiserreiches" zurückgriffen (481). Aber man hätte doch gern Genaueres über die 'wilhelminische Grundierung' der älteren Beamtengeneration(en) erfahren - und darüber, in welcher Hinsicht sich diese von den in der Weimarer Republik sozialisierten Nachkriegsgenerationen unterschieden.

Die vorstehenden Bemerkungen sind nicht als apodiktische Kritik misszuverstehen. Sie sollen vielmehr Verwaltungshistoriker - und nicht nur sie - zu weiteren Studien und zum intensiven Diskurs über künftig einzuschlagende konzeptionelle und methodologische Wege anregen. Das mit dem wenig stimulierenden Begriff 'Behördenforschung' umschriebene Feld steht keineswegs vor einem Abschluss. Stefanie Middendorfs spannende, bahnbrechende Studie bietet zahlreiche Anregungen für neue Perspektiven und hat die Tore für eine 'neue Verwaltungsgeschichte' weit geöffnet. Sie wird auch darüber hinaus die historische Forschung zur 'Zwischenkriegszeit' beleben.

Rüdiger Hachtmann