Wolfgang Augustyn / Ulrich Söding (Hgg.): Bildnis - Memoria - Repräsentation. Beiträge zur Erinnerungskultur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München; Bd. 56), Passau: Dietmar Klinger Verlag 2021, VIII + 515 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86328-182-3, EUR 55,00
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"Irgendwie" ist ja alles Memoria. Umso dringlicher wäre eine konzeptuelle Klärung des beliebten Begriffs Erinnerungskultur. Aber die Fallstudien dieses Sammelbands [1], der auf eine Tagung in München 2018 zurückgeht, bieten dazu nicht ansatzweise Erhellendes. Gleiches gilt für die knappe Einleitung von Wolfgang Augustyn, der Hinweise zu den drei Titelbegriffen gibt.
Wieso als erstes in einem dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gewidmeten Buch das römische Marsfeld im 2. Jahrhundert als dynastischer Memorialraum und Herrschernekropole vorgestellt wird, erschließt sich mir nicht (Hans-Ulrich Cain). Die Frühe Neuzeit reicht hier nur bis 1622.
Im Vordergrund stehen die Grabmäler und ihre Bildnisse. Romedio Schmitz-Esser versucht sich an einer Spätdatierung des Merseburger Grabmals des 1080 gestorbenen Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden in das 12. Jahrhundert. Es wird deutlich, welchen Spielraum stilkritische und epigraphische Argumente lassen. Stiftung und Memoria im Benediktinerkloster Schaffhausen, das von den Grafen von Nellenburg in der Mitte des 11. Jahrhunderts gegründet wurde, sind das Thema von Wolfgang Augustyn. Die wichtigsten Zeugnisse sind das sogenannte Stiftermonument und die Stiftergrabmäler. Es wird aber auch auf die Baugeschichte der Klostergeschichte eingegangen, obwohl das nicht zum eigentlichen Thema gehört. Nach Frankreich, zur Königsgrablege Saint-Denis, führt der nächste Beitrag. Tobias Kunz geht es um die Öffentlichkeit der monumentalen Memorialzeugnisse des späten 13. Jahrhunderts, die, wenig überraschend, als Herrscherlegitimation gesehen werden. Die Textilien in den mittelalterlichen Königsgrabmälern vor allem auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs nimmt sich Juliane von Fircks vor. "Attribute der Memoria um 1500", lautet der Titel des Aufsatzes von Johannes Röll. Es geht um bildliche Darstellungen auf Grabmälern in Rom, die den Stand charakterisieren oder die Person individualisieren sollen, beispielsweise Wappen, Rüstungen, Bücher, Werkzeuge.
Eine Reihe weiterer Beiträge beschäftigt sich mit Bildnissen. Die frühmittelalterliche Überlieferungslage sichtet Christine Jakobi-Mirwald, während sich Milada Studničková den Stifterbildnissen in liturgischen Handschriften Böhmens aus vorhussitischer Zeit widmet. Ein Kupferstich des Pedro Perret von 1622 zeigt den Infanten Don Carlos vor dem Bildnis Kaiser Karls V., was von Thomas Weigel breit erörtert wird.
Inspiriert von englischen Beispielen sucht Lukas Madersbacher auch im deutschsprachigen Raum nach mittelalterlichen "Freundschaftsbildern", findet aber nur das Wiltener Votivbild um 1439, das die Freunde Herzog Friedrich IV. von Österreich und Hans Wilhelm von Mülinen zeigt. Ein Fehlgriff ist die Aussage, dass die "Volkssage" berichte, Mülinen habe den Herrscher auf seiner Flucht begleitet. Zwar hat der Autor in seinem Aufsatz von 2018 [2] die maßgebliche Aufarbeitung der Überlieferung durch Gottfried Kompatscher [3] zur Kenntnis genommen, aber den als Fälscher berüchtigten Joseph von Hormayr nur als Sammler, nicht aber als Erfinder der "Sage" zu bezeichnen, ist einigermaßen naiv. Das spannende Verhältnis von Freundschaft und Erinnerung - genannt sei nur die in der Mitte des 16. Jahrhunderts aufkommende Gattung des Stammbuchs (album amicorum) - zu skizzieren, sah der Autor leider nicht als seine Aufgabe an.
Auf über 100 Seiten behandelt Ulrich Söding am Schluss des Bandes "Das Bildnis in Frontalansicht der Renaissance", eine wertvolle Materialsammlung zu einer eher kleinen Gruppe von Bildnissen, die erst ab 1500 an Bedeutung gewann. Zuvor konkurrierten überwiegend die italienische Profilansicht und die niederländische Dreiviertelansicht (391). Das "autonome Porträt" hat natürlich besondere Bedeutung in der Ausbildung der Erinnerungsmedien im Zeitalter der Renaissance, aber ein spezifischer Bezug des Beitrags zur Memoria-Thematik ist nicht erkennbar. Es spricht für sich, dass dieser Aspekt am deutlichsten in Endnote 153 zur Sprache kommt, im Zitat von Annette Kranz: "Das mein gstalt in gedechtnvs bleib / wann absterb der zegengklich leib". Positionen der Porträtmalerei der Renaissance in Nürnberg und Augsburg. [4]
Es schmerzt, dass ein bedeutender Beitrag von einem Historiker zum Thema Memorialbild sowohl von Söding (425f.) als auch in der Einleitung übergangen wird, nämlich Dieter Mertens: Oberrheinische Humanisten im Bild. Zum Gelehrtenbildnis um 1500 (1997). [5]
Das Germanische Nationalmuseum besitzt eine Gregorsmesse aus der Zeit um 1500 mit den Wappen von Heinrich Wolf und seiner Ehefrau. Schon der Titel von Esther Meier gibt sich hochtrabend: "Standesrepräsentation und ihre Memorialsysteme am Beispiel der Gedächtnistafel des Heinrich Wolff von Wolffsthal und der Katharina Mayr" (261). Altbekanntes wird in aktuellen Jargon übersetzt, wenn es heißt: Die Gmünder Minoriten fungierten als ein "Speicherort, der zum einen aus einem passiven Archiv besteht, dessen Akten befragt werden können, und zum anderen aus einer aktiven Gedächtnissicherung, die durch den anhaltenden Vollzug der liturgischen Handlungen das Bewahren und Abrufen des Gespeicherten in eins setzt" (263). Die Bedeutung der irrig als Stammtafel bezeichneten Gedächtnistafel der Wolf von Wolfstal, die um 1500 auf Papier gemalt wurde (niederländischer Privatbesitz) [6], und ein geradezu sensationelles Zeugnis für das Selbstverständnis des einstigen Schwäbisch Gmünder Stadtgeschlechts [7] darstellt, ist der Autorin nicht aufgegangen, sonst hätte sie ihr mehr als einige nichtssagende Sätze gewidmet. Der Verdacht liegt nahe, dass vor allem die ältesten adeligen Eheverbindungen der Wolf, deren Stammreihe hier wie in Wirklichkeit im 13. Jahrhundert einsetzt, erfunden sind.
Auf eine noch ältere Vergangenheit griff das 1493 datierte "Stifterfresko" des Thomas von Villach im Benediktinerkloster St. Paul im Lavanttal zurück, mit dem sich Veronika Pirker-Aurenhammer befasst. Sie sieht eine "multiple Memoria" gegeben. Erstens ist das Wandbild Erinnerung an das Gründerpaar des Klosters Graf Engelbert von Spanheim/Sponheim und Hadwig, die nach der verlorenen Stiftungsinschrift des Bilds 1091 das Kloster gegründet haben. Zweitens ist es Memoria für den St. Pauler Abt (ab 1488) Sigismund Jöbstl, der es gestiftet hat, und drittens verewigte sich der Maler mit einem lachenden Selbstbildnis und Wappen auf dem Fresko. Über die monastische Erinnerungskultur jener Zeit vor allem in den Benediktinerklöstern [8] erfährt man von der Autorin nichts!
Schon Harald Keller hat auf die Stifter-Grabdenkmäler des 15. Jahrhunderts in Klöstern und Stiften aufmerksam gemacht, die längst Verstorbenen gelten. [9] Manche bedienten sich (anders als das Fresko in St. Paul) historisierender Formen, andere weisen mit der frühhumanistischen Kapitalis eine Schriftart auf, die auf Hochmittelalterliches zurückgreift. Eine umfassende Bestandsaufnahme der Zeugnisse wäre sinnvoll. [10] Meistens, aber nicht immer, wurden die Stifterdenkmäler in Klöstern errichtet, die sich der Ordensreform angeschlossen hatten. Das war auch in St. Paul der Fall, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als observant betrachtet werden kann. [11]
Eine Erwähnung verdient das Wappen des als Herzog bezeichneten Ordensgründers Benedikt auf dem Fresko im Kärntner Kloster (vgl. 256 Anm. 35), da es im Kontext der damaligen benediktinischen Rückbesinnung auf die Anfänge des Ordens zu sehen ist.
Wer Erinnerungskultur als zeitspezifisches Ensemble von Erinnerungsmedien versteht, das nicht nur Grabplastik und Bildnisse umfasst, wird am ehesten fündig in dem ausgezeichneten Beitrag von Tatjana Bartsch: "Brautstiftung und Obelisk. Maarten van Hemmskerks Vermächtnisse tot eewiger memorie". Das machen bereits die ersten beiden Sätze deutlich: "Identitäts- und erinnerungsstiftende Manifestationen von Memoria können vielerlei Gestalt haben: Sie können Texte oder Bilder sein, Denkmäler, Gebäude, Embleme oder Devisen, und neben solchen materiellen Hervorbringungen sich auch als Feste, Riten, historische Ereignisse und andere kulturelle Handlungen zeigen" (311). Bei der von ihr behandelten Memoria des Haarlemer Malers Maarten van Heemskerck (1498-1574) "geht es um seine überlieferten Selbstporträts, ein Abschiedsbild, zwei Grablegen, ein Wappen, um Signaturen, sein Testament und um eine Stiftung" (311). Diese Stiftung des Malers und seiner Ehefrau aus dem Jahr 1558 hatte einen eher eigenartigen Charakter: Sie sollte die Verheiratung bedürftiger junger Mädchen fördern, wobei die Ehe zur Erinnerung an das Stifterpaar auf dessen Grab geschlossen werden sollte. Den Abschnitt über die Stiftung leitet die Autorin mit einem Hinweis auf die - auf Jan Assmann zurückgehende - bedeutsame Unterscheidung der retrospektiven und prospektiven Dimension der Erinnerungskultur ein: "Das memoriale Totengedenken am Grab kennzeichnet zunächst eine retrospektive Form der pietas, in der die Toten in der fortschreitenden Gegenwart durch die Nachkommen präsent gehalten werden. Hinzu kommt die prospektive Erinnerung, die den 'Aspekt der Leistung und fama, der Wege und Formen, sich unvergesslich zu machen und Ruhm zu erwerben' [12] enthält und dessen die Lebenden in einer Verpflichtung der Reziprozität im Blick auf künftige Generationen gedenken" (337). Ungewöhnlich fasziniert war Heemskerck vom antiken Erinnerungsmedium des Obelisken. Die Kunstgeschichte ist gut beraten, die einschlägigen Ausführungen des neulateinischen Philologen Walther Ludwig zu Obelisken in der frühen Neuzeit nicht zu übersehen. [13]
Die geradezu exzessive Sorge des niederländischen Künstlers um seinen Nachruhm (311) wirft die Frage auf, wie man die frühneuzeitliche Erinnerungskultur erforschen kann, ohne zuvor durch vergleichende Untersuchung dieses im Renaissance-Humanismus so wichtigen Konzepts [14] die notwendigen Grundlagen gelegt zu haben. Es wäre an der Zeit, sich diesem Desiderat der Forschung energisch zuzuwenden.
Ohne die Verdienste von Otto-Gerhard Oexle (1939-2016) schmälern zu wollen, auf den die Einleitung (2f.) prominent hinweist, muss festgehalten werden, dass die Eigenart der frühneuzeitlichen Erinnerungskultur verkannt wird, wenn man sie vor allem als "Nachleben" der mittelalterlichen Memoria in den Blick nimmt. [15] In der Zeit Maximilians I. etablierte sich ein "neues Modell des Gedenkens" [16], das mit der Ausbildung neuer oder neu interpretierter Erinnerungsmedien einherging. Zu nennen wären insbesondere: Porträt und Medaille, Jubiläen und Feste (einschließlich ihrer visuellen und textlichen Dokumentation), Stiftungen. Nicht zu vergessen die persönlichen Andenken wie Dürers Locke, gleichsam "profane Reliquien". Die Erforschung der Erinnerungskultur kann nur interdisziplinär betrieben werden. Wenn aber die Kunstgeschichte geschichtswissenschaftliche Resultate nur partiell zur Kenntnis nimmt, ist das wenig hilfreich. Nicht nur Oexle hat sich als Historiker mit Erinnerungskultur befasst. [17]
Wäre dem reich illustrierten Band wenigstens ein Register spendiert worden, könnte man vielleicht über manche Schwäche hinwegsehen.
Anmerkungen:
[1] Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1241777098/04.
[2] In: Herzog Friedrich IV. von Österreich, Graf von Tirol (1406-1439), Bozen 2018, 281-293. Online: https://www.academia.edu/37890267/.
[3] Volk und Herrscher in der historischen Sage, Frankfurt a.M. u.a. 1995, 133-137.
[4] Im Ausstellungskatalog: Nur Gesichter? Innsbruck 2016, 94-116. Das titelgebende Zitat stammt von Christoph Ambergers Bildnis des Hieronymus Sulczer in Gotha (1542): https://www.bildindex.de/document/obj13850013?medium=fmc428459.
[5] In: Bild und Geschichte, Sigmaringen 1997, 221-248. Online: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:25-opus-28135.
[6] Die Publikation des Zeugnisses durch Andreas Furschütz da Cruz, Jutta Zander-Seidel und den Eigentümer Wim Vroom: Die spätmittelalterliche Familientafel der Wolf (von Wolfsthal): Genealogische Legitimation und sozialer Aufstieg im Kontext vorreformatorischer Memorialkultur, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 104 (2017), 25-54 befriedigt nicht ganz. Abbildung: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wolfstal_2001_1.jpg.
[7] Zur Familiengeschichte (noch ohne Kenntnis der Gedächtnistafel): Klaus Graf: Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert, Schwäbisch Gmünd 1984, 132-135.
[8] Klaus Graf: Monastischer Historismus in Südwestdeutschland am Ende des 15. Jahrhunderts, in: Weblog Ordensgeschichte vom 19. August 2013 (mit Nachträgen). Online: https://ordensgeschichte.hypotheses.org/5366.
[9] Das Geschichtsbewußtsein des deutschen Humanismus und die Bildende Kunst, in: Historisches Jahrbuch 60 (1940), 664-684. Vgl. auch Klaus Graf: Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des Historikers, in: Mundus in imagine, München 1996, 389-420, hier 400. Online: https://doi.org/10.11588/artdok.00000395.
[10] Aus Ausgangspunkt kann dienen die umfangreiche Liste bei Franz Bischoff: Burkhard Engelberg, Augsburg 1999, 238f. mit Erwähnung von St. Paul.
[11] Wilhelm Baum im Ausstellungskatalog: Schatzhaus Kärntens, Bd. 1, Klagenfurt 1991, 130-132.
[12] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 6. Auflage, München 2007, 61.
[13] Walther Ludwig: Das 1685 gegründete Stuttgarter Gymnasium illustre, die Salomonischen sieben Säulen des Hauses der Weisheit und die frühneuzeitlichen Obelisken in Krakau und Holstein, in: Florilegium Neolatinum. Ausgewählte Aufsätze 2014-2018, hg. von Walther Ludwig, Hildesheim u.a. 2019, 565-621; Derselbe: Ägyptische Obelisken in Rom und nördlich der Alpen, in: Rom im Buch. Vortragsband, Paderborn 2020, 149-162.
[14] Berndt Hamm: Rühmende Memoria. Der Zusammenhang von Verdiesseitigung und Religiosität in der Gedächtnispflege der Humanisten, in: Christian humanism. Essays in Honour of Arjo Vanderjagt, Leiden u.a. 2009, 41-57. Nur Andeutungen zur frühen Neuzeit bei Klaus Graf: Nachruhm - Überlegungen zur fürstlichen Erinnerungskultur im deutschen Spätmittelalter, in: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter, Stuttgart 2002, 315-336, hier 329. Online: https://doi.org/10.11588/artdok.00000527.
[15] Vgl. jüngst meine knappen Bemerkungen zur Erinnerungskultur der frühneuzeitlichen Gymnasien in einer Buchbesprechung: o-bib 2022 Nr. 1. Online: https://doi.org/10.5282/o-bib/5808.
[16] Klaus Graf: Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Les princes et l'histoire du XIVe au XVIIIe siècle, Bonn 1998, 1-11. Online: https://doi.org/10.11588/artdok.00000523.
[17] Vgl. nur oben Anm. 5 oder Mark Mersiowsky: Medien der Erinnerung in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, in: Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust, Ostfildern 2015, 193-254 (Ergänzungen: https://archivalia.hypotheses.org/1163).
Klaus Graf