Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): The INF Treaty of 1987. A Reappraisal, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 378 S., ISBN 978-3-525-35217-5, EUR 90,00
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Matthew J. Ambrose: The Control Agenda. A History of the Strategic Arms Limitation Talks, Ithaca / London: Cornell University Press 2018
Susanna Schrafstetter / Stephen Twigge: Avoiding Armageddon. Europe, the United States, and the Struggle for Nuclear Nonproliferation, 1945-1970, Westport, CT: Praeger Publishers 2004
Ralph L. Dietl: Equal Security. Europe and the SALT Process, 1969-1976, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013
Kyle Harvey: American Anti-Nuclear Activism, 1975-1990. The Challenge of Peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014
Eckart Conze / Martin Klimke / Jeremy Varon (eds.): Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Karl Christ: Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg, München: C.H.Beck 2008
Seth A. Johnston: How NATO Adapts. Strategy and Organization in the Atlantic Alliance since 1950, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2017
Peter Hoffmann: Carl Goerdeler. Gegen die Verfolgung der Juden, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Ulrich Lappenküper: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, München: Oldenbourg 2008
Tim Geiger / Matthias Peter / Mechthild Lindemann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1983, München: Oldenbourg 2014
Daniela Taschler / Tim Geiger / Tim Szatkowski (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023
Das Ende des Kalten Krieges ist inzwischen mehr als dreißig Jahre her, und damit rücken die Ereignisse der späten 1980er und frühen 1990er Jahre in den Fokus der Geschichtsschreibung. Zumindest im Westen werden die Akten zugänglich, damit beginnt ein Prozess, wie ihn Donald Cameron Watt 1988 einmal idealtypisch beschrieben hat [1]: was früher einmal von Journalisten zeitnah und mit teils unklarer Quellenlage beschrieben wurde, wird jetzt von Historikern anhand der Originalquellen tiefer analysiert.
Diesen Prozess bildet der hier vorzustellende Band ab: Beth A. Fischer ist mit einem Beitrag vertreten, der - wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen - eine teilweise Abkehr von früher von ihr vertretenen Thesen darstellt, indem sie heute Ronald Reagans Politik als im Wesentlichen in sich schlüssig auch über seine gesamte Amtszeit hinweg interpretiert. Ronald Granieri, der sich der amerikanischen Politik der 1980er Jahre annimmt, arbeitet sich dagegen noch an den früheren Thesen der Kollegin ab, wonach Reagan sich erst in seiner zweiten Amtsperiode der "Doppel-Null" zugewandt habe. So geht es mit Bänden, die an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts marschieren, und das ist auch gut so.
Das Buch ist aus einer von den drei Herausgebern zusammen mit Bernd Greiner veranstalteten Tagung heraus entstanden; Buch und Tagung muss man zunächst eine inhaltliche Stringenz und klare Struktur bescheinigen. Ein erster Teil stellt die Politik der Supermächte USA und Sowjetunion dar, die ja am Ende die beiden vertragschließenden Parteien war. Der zweite Teil untersucht die Reaktion der westlichen Alliierten, der dritte die Rolle der sowjetischen Verbündeten. Erneut ergibt sich, dass weder die westliche noch die östliche Allianz homogen waren. Auch die "Satelliten Moskaus" wussten sehr wohl ihre jeweiligen nationalen Interessen zu vertreten. Ein vierter Teil befasst sich mit den Protestbewegungen und der Öffentlichkeit insgesamt. Den Band beschließt der fünfte Teil, der die Auswirkungen des INF-Vertrages bis heute diskutiert. Hier weicht der Band naturgemäß von den im Dezember 2017 auf der Tagung gehaltenen Vorträgen ab, denn seither ist bekanntlich der INF-Vertrag ausgelaufen, was die abgedruckten Aufsätze sehr wohl reflektieren.
Es kann hier nicht darum gehen, alle Beiträge einzeln vorzustellen. Beide Beiträge über die Politik der Supermächte und ihrer jeweiligen Führer heben auf die innenpolitischen Voraussetzungen der Entscheidungsprozesse ab: Reagan, der sich von den Auswirkungen der Iran-Contra-Affäre durch einen kühnen Abrüstungsschritt zu erholen hoffte, wogegen in Moskau die Militärs im Vertrauen auf die eigene konventionelle Überlegenheit die nukleare Abrüstung befürworteten, wogegen Gorbatschow den Marschällen im Gegenzug massive Einschnitte im Rüstungsbudget abringen wollte. Dabei half, dass sowjetische Wissenschaftler zu dem Ergebnis gekommen waren, Reagans Strategic Defense Initiative sei technisch nicht machbar und werde daher keine Gefahr für Moskau darstellen.
Zwar waren die beiden Supermächte die vertragschließenden Parteien, aber der INF-Vertrag betraf deren jeweilige Bündnispartner unmittelbar. Immerhin waren die in Rede stehenden Waffensysteme weit überwiegend auf dem Territorium der europäischen Verbündeten stationiert. Die Herausgeber sind nicht der Versuchung unterlegen, hier nach Vollständigkeit zu streben. Klugerweise haben sie stattdessen eine Auswahl getroffen: Für Großbritannien etwa war das Wichtigste am gesamten Prozess, dass die USA nicht der sowjetischen Forderung nachgaben, das britische Nuklearpotential in die Verhandlungen mit einzubeziehen, wie Oliver Barton darlegt. Der Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl lag dagegen sehr daran, das nukleare Abschreckungs-Kontinuum nicht zu unterbrechen. Kohl hatte weniger mit der Friedensbewegung in seinem Land zu kämpfen (die Tim Geiger in seinem klugen Beitrag zu Recht wenig beachtet) als mit den Tendenzen seines Bündnispartners FDP und besonders des Außenministers Hans-Dietrich Genscher, mehr auf Abrüstung als auf Sicherheit Wert zu legen. Erst als Genscher darauf hinweisen konnte, dass sich Reagan und Gorbatschow auf eine doppelte Null-Lösung geeinigt hätten, gab auch der Bundeskanzler seinen Widerstand auf.
Für die DDR hingegen kam es vor allem darauf an, einerseits ihre Position als Musterschüler im sozialistischen Lager zu behaupten, andererseits aber die Kontakte zum Westen so zu pflegen, dass die dringend benötigten Kredite nicht in Gefahr gerieten. Auch sah die SED-Spitze mit Sorge die Faszination, die von Gorbatschows Reformen für die ostdeutsche Bevölkerung ausging. Zunehmend wurde man sich in Ostberlin der Gefahr bewusst, die eine nukleare Eskalation in Mitteleuropa für den "ersten Arbeiter- und Bauernstaat in Deutschland" bedeuten konnte. Zugleich lag Honecker sehr an dem lange ersehnten Besuch in der Bundesrepublik, der 1987 einen gewissen Höhepunkt seiner Deutschlandpolitik darstellte. Hier legt Hermann Wentker, wohl einer der besten Kenner der DDR-Außenpolitik, das komplizierte Interessengeflecht mit sicherer Hand offen.
Wanda Jarząbek legt dann mit einem Beitrag über Polen nach. Es ist die Zeit von Solidarność und Kriegsrecht, aber zugleich eine Zeit wachsenden polnischen Selbstbewusstseins. Es überrascht vielleicht ein wenig, dass die Warschauer Professorin hier mit keinem Wort auf die Rolle des polnischen Papstes eingeht, aber auch dieser Beitrag besticht durch eine schlüssige, luzide Darlegung der komplizierten Situation, in der sich die polnische Staats- und Parteiführung befand.
Während man die Auswahl der Beiträge über die Haltung der Bündnispartner begrüßen kann, stellt sich doch die Frage nach den Auswahlkriterien für den vierten Teil "Public Opinion and Protest Movements". Dort finden sich drei Aufsätze: einer (Tapio Juntunen) über die Anti-Atomwaffen-Bewegung in Skandinavien, einer (Claudia Kemper) über die Friedensbewegung in den USA, und einer (von dem Mitherausgeber Philipp Gassert) über den Friedensdiskurs in der Bundesrepublik. Sind diese drei Bewegungen wirklich ähnlich wirkmächtig gewesen? Dabei geht Gassert aber gar nicht den Weg, noch einmal die Geschichte der Friedensbewegung zu erzählen. Vielmehr greift er die Entscheidung Bundeskanzler Kohls auf, auch die deutschen Mittelstreckenwaffen ("Pershing I A") abzuschaffen. Gassert legt dar, dass hinter dieser Kehrtwende Kohlscher Politik die Einsicht stand, dass die deutsche Öffentlichkeit die Kernaussagen der Friedensbewegung verinnerlicht hatte. Anstatt durch ein Festhalten an den veralteten Pershing I den Koalitionspartner, die Wähler und den amerikanischen Verbündeten gleichermaßen gegen sich aufzubringen, wählte Kohl den Weg der nuklearpolitischen Wende. Wie Gassert darlegt, führte dies genau nicht zu einer Wiederbelebung der Friedensbewegung.
Der fünfte Teil ("Legacy of the INF Treaty") bietet neben Aufsätzen über das Verifikationsregime oder die internationale Lage nach dem Auslaufen des der INF-Vertrages einen meisterlichen Überblick über die Geschichte des Kalten Krieges aus der Feder von Bernd Greiner, der die Frage nach Vertrauen ("trust") und Misstrauen als einen roten Faden in der Geschichte der ganzen Ära sieht. Basiert auf einem stupenden Literaturüberblick, bietet der Altmeister der deutschen Forschung zum Kalten Krieg hier eine anregend neue Perspektive.
Der Band ist in einem deutschen Verlag erschienen, aber in englischer Sprache. Wer heute in der internationalen Fachwissenschaft zur ersten Liga gehören will, muss seine Forschungsergebnisse auf Englisch veröffentlichen, sonst werden sie nicht wahrgenommen. Was das allerdings für die Arbeit internationaler Wissenschaftler bedeutet, von denen einige über den Kalten Krieg arbeiten, ohne die west- oder ostdeutschen Quellen im Original lesen zu können, darüber kann man spekulieren - doch das ist eine andere Geschichte.
Anmerkung:
[1] Donald Cameron Watt: Bemerkungen mit dem Ziel einer Synthese, in: Die westliche Sicherheitsgemeinschaft 1948-1950. Gemeinsame Probleme und gegensätzliche Nationalinteressen in der Gründungsphase der Nordatlantischen Allianz, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Norbert Wiggershaus / Roland G. Foerster (=Militärgeschichte seit 1945; 8), Boppard 1988, 343-372.
Winfried Heinemann