Von Peter Helmberger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Am Anfang steht die Überraschung: Kaum hat man das neue Museum der Bayerischen Geschichte - in Sichtweite von Dom, Steinerner Brücke und am Marc-Aurel-Ufer gelegen - in Regensburg betreten, werden im Erdgeschoss die eigenen Erwartungen gleich erheblich korrigiert. Der dort gezeigte Einführungsfilm mag zwar ein wenig sehr Christoph-Süß-lastig ausgefallen sein und es mit ironischen Brechungen fast schon übertreiben, doch er zeigt nachdrücklich, worum es den Verantwortlichen des Museums geht: Statt einer (erneuten) Darstellung jahrhundertelanger Traditionen sollen "Geschichten aus und über Bayern" erzählt werden. Dieses sehr offene Konzept wird dann in der Dauerausstellung bestätigt, in der die letzten rund 200 Jahre bayerischer Geschichte präsentiert werden. Die Binnengliederung hätte zudem kaum nüchterner ausfallen können. Es gibt keine Strukturierung nach Herrschern, Regierungsformen oder anderen bekannten Zäsuren. Stattdessen herrscht ein 25-Jahre-Raster vor, das ein wenig irritierend und - aus fachhistorischer Sicht - durchaus auch fälschlicherweise mit dem Etikett Generation versehen wurde. Die hierzu gewählten Überschriften (etwa "Königsdrama Ludwig II.", "Bayern wird Mythos", "Weltkrieg und Freistaat") decken sich mit den damit verbundenen Jahreszahlen zur bedingt, zeigen, dass es hier nicht um Generationen in methodisch-theoretischer Sicht geht, und tragen insgesamt relativ wenig zur Orientierung bei. Ganz nebenbei lenken sie die Ausstellung auch doch wieder stärker in Richtung einer durchgängigen Interpretation.
Bei der im Folgenden genauer betrachteten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehen die "Geschichten aus und über Bayern" zunächst einmal aus einer ordentlichen Portion Ludwig II. Einer seiner Prunkschlitten wird zu Wagner-Klängen effektvoll in Szene gesetzt. Auf die modernen Elemente bei aller demonstrierten Romantik (Fernsprecher in Neuschwanstein, elektrisches Licht) wird hingewiesen, eine große Sammlung von Ludwig-Memorabilia sowie Ausschnitte aus Spielfilmen zum Märchenkönig werden gezeigt. Dies ist gemessen an der Bekanntheit dieses Monarchen und dem unterstellten breiteren Publikumsinteresse wohl berechtigt. Wenn dann aber auch Gegenstände aus dem Umfeld der Auffindung der königlichen Leiche im Starnberger See fast schon reliquienhaft präsentiert werden, bedient dies eher einen Kult, als dass es über die Zeitläufte informiert. Der für viele Bayern und ihre Familien wohl mindestens so wichtige Krieg von 1866 wird dagegen zum Beispiel ziemlich lakonisch mit zwei Sätzen abgehandelt. Erst der Krieg mit Frankreich 1870/71 findet dann größere Aufmerksamkeit, wenn auch mit bemerkenswerter Interpretation: Der Konflikt wird allein einer Provokation Bismarcks zugeschrieben, die 3000 bayerischen Gefallenen und - etwas verklausuliert - der Kaiserbrief des bayerischen Königs samt der im Zusammenhang damit geflossenen Gelder werden genannt. Hauptsächlich thematisieren die Ausstellungsvitrine und die Schautafel unter der Überschrift "Finis Bavariae, Ende Bayerns?" aber die Reichsgründung beziehungsweise den Beitritt Bayerns zum neuen deutschen Kaiserreich. Die hierzu notwendige Landtagsdebatte wird zur "Sternstunde", die Wortmeldungen vor allem von Abgeordneten aus Niederbayern und der Oberpfalz, die vor einem kommenden Weltkrieg warnten, werden als Prophezeiung deklariert ("1914 beginnt der von den ostbayerischen Abgeordneten befürchtete große Krieg"). Die Zitate der Parlamentsdebatte selbst laufen - als eines der wenigen beweglichen Schaustücke - über das Gesicht einer Bavaria, die bittere Tränen weint. Spätestens hier kann keine ironische Brechung mehr vermutet werden, und es ist doch zu fragen, ob dieses Stilmittel in einer historischen Ausstellung glücklich gewählt ist.
Das letzte Jahrhundert-Viertel steht dann im Zeichen einer Industrialisierung "mit Maß" und kann mit durchaus beeindruckenden Exponaten, wie einer frühen Kältemaschine von Linde, einer Lanz-Lokomobile oder einem Großscheinwerfer von Sigmund Schuckert (für die Weltausstellung 1893 in Chicago) aufwarten. Betont wird auf den Ausstellungstafeln, dass in Bayern - anders als etwa im Ruhrgebiet - keine (schwerindustrielle) Monokultur "gefragt" gewesen sei, vielmehr hätten Landwirtschaft und Handwerk "noch ihren Mann" genährt. Auch die Bedeutung des gelebten Brauchtums (etwa in Form des Bauerntheaters) wird betont; hier erkennt man auch den Ursprung eines "Mythos Bayern". Unter der Überschrift "Trendsetter Bauern" wird schließlich vermeldet, dass zwar die "Städte mächtiger" geworden seien, aber: "Ohne die Bauern geht nicht viel in Bayern." Dem ist als Befund kaum zu widersprechen, allerdings blendet dies wichtige Aspekte der damaligen Zeit, ihrer Chancen und Probleme schlicht aus. Die Ambivalenz dieser Jahre ist bereits öfter nachdrücklich betont worden. Das Stichwort "Prinzregentenzeit", dessen Namensgeber in der Ausstellung fast vollständig fehlt, soll hier nur als ein Beispiel dienen. Lediglich die SPD und die organisierte Arbeiterbewegung finden noch kurz Erwähnung - wenngleich verortet unter einem vieldeutigen Diktum Georg von Vollmars: "Kein Land weniger geeignet für die Sozialdemokratie".
Kaum eine Silbe findet sich zum Themenfeld Religion und Religiosität, was ebenso bemerkenswert wie bedauerlich ist. Dass man diese Thematik in eines der - die Ausstellung flankierenden - "Kulturkabinette" gleichsam ausgelagert hat, führt dazu, dass sich Religion auf einer Ebene mit Dialekt, Feste, Bauen, FCB, Theater, Heimat und Natur wiederfindet. Auch werden fast ausschließlich Kultgegenstände unterschiedlicher Religionen stark additiv präsentiert und lassen kaum Rückschlüsse auf die Bedeutung und Wirkungsmacht von Religionsgemeinschaften (und hier speziell der katholischen Kirche) in der Gesellschaft zu. Vermutlich ist dies aber insgesamt aussagekräftiger für die Entstehungszeit des Museums als für das 19. Jahrhundert.
Der hier näher betrachtete Zeitabschnitt endet mit dem Ersten Weltkrieg, wobei weder die Entstehungsgeschichte noch der militärische Verlauf im Vordergrund stehen; von besonderer Bedeutung sind dagegen Alltags- und Erfahrungsgeschichte. Dies spiegelt sich in den Exponaten wider und schließt nachvollziehbar und überzeugend an die Grundkonzeption des Museums an.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das Museum für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus Geschichten aus und über Bayern bereithält. Diese werden - stark abhängig von den verfügbaren Exponaten - unterschiedlich anschaulich erzählt. Dass hierbei neue, von bisherigen Ausstellungen oder Publikationen abweichende Schwerpunkte entstanden sind, ist der Grundkonzeption des Hauses geschuldet. Diese Aspekte mögen im Einzelfall zu bedauern oder sogar in Frage zu stellen sein, sie können aber neue Diskussionen zur bayerischen Geschichte befördern und sind daher zu begrüßen.
Für die einzelnen Besucherinnen und Besucher hält die Ausstellung immer wieder auch direkte Andockstellen zu vorhandenem Wissen, eigenen Interessen oder vielleicht sogar zur eigenen Familiengeschichte bereit. Allerdings erscheinen viele der Informationstafeln, die die Exponate begleiten, überarbeitungsbedürftig. In gelegentlich lakonischer Kürze setzen diese Texte entweder erstaunlich viel an Hintergrundwissen voraus und zeigen sich zugleich - transparent oder nicht - bemerkenswert meinungs- und deutungsstark. Damit steht in Regensburg ein Museum, das durch ein bewusst niederschwelliges Konzept Neugier auf die Geschichte(n) Bayerns weckt, informiert, aber auch zu Diskussion und Widerspruch animiert. Dies ist mehr, als manche derartige Institution sonst leistet.