Irene Dingel / Michael Rohrschneider / Inken Schmidt-Voges u.a. (Hgg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit. Handbook of Peace in Early Modern Europe, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, 1130 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-058805-7, EUR 149,95
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Ein Werk wie dieses war längst überfällig. Zwar wurde der Friede schon immer gepriesen und hat im 20. Jahrhundert moralisch sogar die Oberhand gewonnen. Der Krieg wurde verboten. Es gibt heute keine Kriegsminister mehr, sondern nur noch Verteidigungsminister und auch so gut wie keine ordnungsgemäß mit Kriegserklärung begonnenen und mit Friedensschluss beendeten Kämpfe alten Stils. Die Wirklichkeit ist freilich nichtsdestoweniger kriegerischer denn je. Auch die Wissenschaft interessiert sich demgemäß lieber für Krieg als für Frieden. Faktisch gilt eben immer noch die Feststellung von Nietzsches Zarathustra "der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt" (97). Sogar die Menschenrechte müssen heute den Krieg "heiligen". Anthropologisch gesehen ist es ja viel einfacher, einen Konflikt auszulösen und durchzufechten als ihn beizulegen und zu beenden. Entsprechend schwer tut sich die Friedensforschung mit der Gewalt und entsprechend verdienstvoll ist der Versuch dieses Buches, hier mit historischer Friedensforschung massiv wissenschaftlich gegenzusteuern.
55 Autoren behandeln 51 Themen. 15 Beiträge stammen von Frauen und 13 aus nicht-deutschsprachlichen Institutionen zwischen den USA und Singapore, Indien und Japan. Die Herausgeberinnen haben dabei viele ausgezeichnete Experten für den jeweiligen Gegenstand gewinnen können. Sieben der 51 Kapitel liegen in englischer Sprache vor, alle haben eine englische Zusammenfassung. Titel und Einleitung sind zweisprachig. Die Artikel umfassen durchschnittlich 20 Seiten mit Fußnoten und reichhaltigen Auswahlbibliographien. Gesamtregister der historischen Namen und Orte erweisen sich als zuverlässig. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf den 37 thematischen Kapiteln. In diesem Rahmen wurde ein Akzent auf die Geschichte des Alten Reiches gesetzt, die friedens- und forschungsgeschichtlich von besonderem Interesse ist. Die übrigen 14 Kapitel behandeln einzelne Friedensregelungen oder zusammenhängende Gruppen von solchen, eine überzeugende Auswahl aus den über 2000 Friedensabkommen der europäischen Frühneuzeit. Diese bemerkenswerte Zahl wird zwar genannt (XXIX, XLIV), aber anscheinend nirgends belegt.
Die fünf Sektionen des Bandes schreiten vom Allgemeinen zum Besonderen fort. Die erste befasst sich in sieben Kapiteln mit "Friedensbegriffen und -ideen" als Wissensordnungen. Nach den antiken und mittelalterlichen Grundlagen geht es zunächst um die Zeit zwischen Frührenaissance und Reformation, dann um das späte 16. und das 17. Jahrhundert. Die klassische Utopie wurde schon im 17. Jahrhundert von regelrechten Friedensprojekten abgelöst. Sie steigern sich in Entwürfen der Aufklärung, mit Kants Friedensschrift von 1795 als Höhepunkt. Diese stellt geradezu einen "Musterfriedensvertrag" vor, der seinerzeit erhebliches Aufsehen erregte. Abschließend werden Völkerrechtstheorie und -praxis gewürdigt, bevor ein indischer Kollege außer der Reihe auf dem Hintergrund der indischen Gewalttradition die Friedenstheorie und -praxis des Mogulreichs darlegt. Indiens generelle Friedlichkeit erweist sich dabei wieder einmal als Legende!
Praxisnäher ist die umfangreiche Sektion "Friedensordnungen", unter deren 14 Kapiteln sich drei weitere zu außereuropäischen Beziehungen befinden. Dabei gingen die Europäer von formal gleichberechtigten Friedens- und Vertragsbeziehungen aus - soweit sie nicht selber als Räuber und Piraten tätig wurden. Im muslimischen Mittelmeergebiet, an den Küsten Afrikas, in Südostasien und unter den Völkern Nordamerikas hingegen war Friedenssicherung ein komplexeres und ungleichgewichtiges Geschäft. Es konnte sich um rein mündliche Abmachungen handeln, um Kontrolle von Familie und Land statt um die Vorläufer der modernen europäischen Staaten und um ungleichgewichtige Beziehungen. Denn mit dem Osmanischen Reich gab es nur Waffenstillstände, keinen Frieden, und nur Privilegien des Sultans statt europäischen Verträgen. Allerdings bieten die siebenerlei "innergesellschaftlichen [das heißt, vor- und außerstaatlichen: WR] Friedensordnungen" ebenfalls ein buntes Bild vom Landfrieden, der Friedenssicherung durch die Justiz und durch Policeyordnungen, von den Erb-Einungen potentiell feindlicher Adeliger, von Friedensräumen wie Burgfrieden, Kirchenfrieden, Gerichts- und Marktfrieden, vor allem aber vom Hausfrieden und schließlich vom neuen Instrument des Religionsfriedens. Auf zwischenstaatlicher Ebene ging es um Verträge und Sicherheitspolitik im Dreißigjährigen Krieg, schon vorher 1500-1617 um Waffenstillstände, dann um das Mächtesystem und die Diplomatie der Frühneuzeit als einer Zeit besonders vieler Kriege und schließlich um Form und Inhalt europäischer Friedensverträge 1461-1783, mit Liste (353-355).
Sektion III schreitet von den Ordnungen zu "Friedenspraktiken und -prozessen" fort. Unter den Friedenskongressen haben Münster und Osnabrück immer wieder Vorbild- und Referenzcharakter, nicht zuletzt dank des hohen Forschungsstandes (Acta Pacis Westphalicae). Anschließend ist die Rede von Verhandlungspraxis, Friedensvermittlung, Verhandlungssprachen, friedenstiftenden Akteur*Innen (der einzige mit * bewehrte Beitrag), Friedenssicherung im Zeichen der neueren historischen Sicherheitsforschung, Neutralität als Absicht und später als Rechtsfigur, Toleranz und schließlich vom Zeremoniell. Diese Beiträge profitieren ganz besonders von der neuen "Kulturgeschichte des Politischen".
Die Sektion IV "Friedenskultur: Medien und Vermittlung" scheint hingegen auf einen eher traditionellen Kulturbegriff hinauszulaufen. Die in diesem Teil farbig illustrierten Beiträge handeln nämlich vom Frieden in der bildenden Kunst, in der Musik, in der Predigt und in der Literatur. Dem sind aber zwei weiterführende Beiträge vorgeschaltet, die sich mit Friedensfeiern und Gedächtniskultur sowie mit der materiellen Kultur des Friedensschließens befassen, von den Örtlichkeiten des Friedensschlusses bis zur Herstellung von vielerlei Friedenssouvenirs als Konsumgegenständen.
Die 14 Kapitel der Sektion V wählen einzelne Friedensschlüsse oder zusammenhängende Serien von solchen aus, die besonders folgenreich oder von paradigmatischer Bedeutung waren wie der Ewige Landfrieden 1495 für die Gattung Landfrieden. Auf den Kuttenberger Religionsfrieden von 1485 folgten später die Religionsfrieden der Konfessionskonflikte. Nach einem systematischen Kapitel vorab (Nr. 14) folgen Kappel 1529 und 1531, Augsburg 1555, Warschau 1573, Nantes 1598 und die siebenbürgischen Religionsgesetze des 16./17. Jahrhunderts. Auch der Westfälische Friede gehört dazu, freilich ebenso in die lange Reihe der Friedensschlüsse nach Machtkämpfen: Cateau Cambrésis 1559, die Friedensschlüsse der Zeit Ludwigs XIV., die Frieden nach den Türkenkriegen 1606-1792, nach den Nordischen Kriegen 1570-1815, nach den preußisch-österreichischen Kriegen 1740-1779 sowie im Zeichen der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses 1792-1815.
Der sinnvoll bemessene Umfang der Texte gestattete eine angemessene Bearbeitung der Themen, wobei die Verfasser ihrer Aufgabe m. E. rundum tadellos gerecht wurden. Das Werk stellt eine Pionierleistung dar, der man weite Verbreitung wünschen möchte - trotz des stolzen Preises!
Wolfgang Reinhard