Tonio Hölscher: Krieg und Kunst im antiken Griechenland und Rom. Vier Triebkräfte kriegerischer Gewalt: Heldentum, Identität, Herrschaft, Ideologie (= Münchner Vorlesungen zu Antiken Welten; Bd. 4), Berlin: De Gruyter 2019, X + 374 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-11-054950-8, EUR 99,95
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In vielerlei Hinsicht handelt es sich bei dieser Sammlung von Vorträgen, die 2014 und 2015 im Rahmen der Gastprofessur für antike Kulturgeschichte an der LMU München gehalten wurden, wohl um Tonio Hölschers bestes Buch. Es präsentiert, fokussiert auf das Thema des Krieges in der antiken (Bilder)welt, eine meisterhafte Erzählung, die zugleich auch ein Lehrstück in archäologischer Interpretation ist.
Der Leser trifft hier auf einen Autor, der, nach einer Reihe semiotisch-strukturalistischer Pionierleistungen [1] sowie stärker soziopolitisch grundierter Bücher [2], mit höchster Präzision und sprachlicher Eleganz eine große kulturgeschichtliche Vision verwirklicht: die Schilderung und Analyse der griechisch-römischen Bilderwelt nicht bloß als Spiegel einer historischen 'Wirklichkeit', sondern als machtvoller Kosmos, in dem sich Realität und Imagination in bedeutungsvoller Weise überkreuzen.
Etliche der hier vorgelegten Detailstudien, etwa zum Marathon-Gemälde in der Stoa Poikile, zum Alexandermosaik, zur Statue der Penelope aus Persepolis, zur narrativen Struktur römischer Historienreliefs und zur Trajanssäule, gehen auf die lange Serie von Hölschers einschlägigen Publikationen seit den 1970er-Jahren zurück. In vielen Punkten haben wir hier jedoch modifizierte und feiner nuancierte Lesarten vor uns, die auf dem letzten Stand der Forschung sind und in ihrer Zusammenschau eine ganz neue argumentative Kraft entfalten.
Die vier großen Kapitel bieten ein Panorama der griechisch-römischen Bildkunst, wobei Hölschers Darstellung einem chronologischen Bogen von der spätgeometrischen Zeit bis in die römische Kaiserzeit folgt. Überlegungen zum Konstantinsbogen stellen den zeitlichen Schlusspunkt dar. Die im Untertitel angeführten "vier Triebkräfte kriegerischer Gewalt" - Heldentum, Identität, Herrschaft und Ideologie - dienen Hölscher dabei als heuristische Leitkonzepte. Eine große Zahl an Abbildungen, teils in Farbe und durchwegs von guter Druckqualität, begleitet den Text. Eine ausführliche Besprechung des an Ideen so reichen Buches kann hier aus Platzgründen nicht geleistet werden. Deshalb seien im Folgenden einige Punkte schlaglichtartig herausgegriffen.
Die Überlegungen zu archaischen bis frühklassischen Bildern des trojanischen Krieges sind brillant und gehören zum Besten, das über diese Bilderwelt geschrieben wurde. Allerdings zeigt sich hier, dass die archäologische Bildanalyse in strukturalistisch-semantischer Hinsicht naturgemäß deutlich schärfere Aussagen ermöglicht, sobald bekannte und im Detail durch literarische Quellen ausgestaltete Mythen wie v.a. der trojanische Zyklus vorliegen. Dieser Informationsstand gestattet es, Bilder als Ausdruck von Wertvorstellungen, Normen und Transgressionen erkennen und zu einander in Beziehung setzen zu können. Es stellt sich allerdings die Frage, warum etwa Szenen von außergewöhnlicher Grausamkeit auf geometrischen Vasen nicht zumindest zum Teil ebenfalls bereits Bilder des Mythos sein sollen, wenn Hölscher doch zu Recht betont (58-73), dass z.B. archaische Darstellungen des Achill durch exzessive Brutalität das ambivalente Schwanken des Helden zwischen vorbildhaft-heroischem Verhalten und moralischer Transgression zum Ausdruck bringen.
Wenn Hölscher seinen Analysen immer wieder das Konzept eines 'konzeptionellen Realismus' zugrunde legt, so muss für die Vasenbilder archaischer und klassischer Zeit doch konstatiert werden, dass der hier zum Ausdruck kommende 'konzeptionelle Realismus' primär ein athenischer ist. Ganz im Sinne der bereits von Thukydides (1, 10, 5) entworfenen Überlegungen zum künftigen Ruhm Athens und Spartas, haben sich Gegenwelten zu dem übermächtigen Kosmos der athenischen Bilder im archäologischen Bestand aus Griechenland nur sporadisch erhalten. Angesichts des regen Exports attischer Vasen nach Etrurien fragt man sich zudem, warum der athenische 'konzeptionelle Realismus' eine so starke Faszination auf die Etrusker (im Grabkult, aber auch im Kontext des Symposions) ausgeübt hat. Waren die attischen Bilder vom Krieg für etruskische Benutzer rein dekorativ oder wirkten sie auch diskursiv, zumal etruskische Kampfdarstellungen, etwa in der Tempeldekoration, einen deutlich abweichenden 'konzeptionellen Realismus' in Hinblick auf Grausamkeit und Brutalität erkennen lassen?
Ein weiterer Bereich, den Hölscher im Zuge seiner Darstellung nur streifen kann, ist die konkrete Funktion der griechischen Bildwerke, jenseits der unbestrittenen Verbildlichung von Werten und kollektiven Idealen. Viele der Beuteweihungen und Statuen in Heiligtümern sind zweifellos mit einem intendierten Propagandaeffekt im gesamtgriechischen Kontext zu verbinden, doch welche Rolle spielte dabei die religiöse Funktion dieser Statuen und Statuengruppen, als Weihgaben an die Götter, von denen man sich Schutz und Unterstützung erhoffte? Reflektieren solche Bildwerke tatsächlich primär politische Ambitionen (im Sinne einer 'realistischen' Lesart), oder gesellt sich dazu nicht auch eine ausgeprägte totemistische Qualität, die sich nur anhand von anthropologischen bzw. ethnografischen Vergleichen besser begreifen ließe?
Blickt man schließlich auf das Kapitel zu Bildern des Krieges in der römischen Kaiserzeit, so wird deutlich, dass Hölscher hier vor allem an Monumenten der 'Staatskunst' in Rom selbst interessiert ist, obwohl z.B. das reiche Korpus militärischer Grabmonumente aus den Nordwestprovinzen einen faszinierenden Einblick in den 'konzeptionelle Realismus' jener geboten hätte, die tatsächlich mit der Waffe in der Hand das Imperium an seinen Grenzen verteidigten; dasselbe könnte über die Zeugnisse der militärischen community von Dura Europos, aber auch die Grabsteine von Gardesoldaten aus Rom, gesagt werden. [3] Hier spiegelt sich die traditionelle deutsche Trennung zwischen Klassischer und Provinzialrömischer Archäologie, aufgrund derer das mediterrane Zentrum und die imperiale Peripherie weitgehend als zwei unterschiedliche Sphären behandelt werden. Obwohl Hölscher etwa den Bogen von Orange (274-279) aufgrund seiner Kampfdarstellungen mit einbezieht, ist sein Blick doch weitestgehend der eines Stadtrömers, sowohl - um den Titel eines seiner eigenen frühen Werke zu zitieren - in Hinblick auf 'Staatsdenkmal' als auch 'Publikum'.
Hölschers abschließende Erweiterung von Max Webers klassischer Definition der drei Typen von Herrschaft (legal, charismatisch, autoritär) durch einen vierten Typ der ideologischen Herrschaft regt zum Weiterdenken an (334-337). [4] Fraglich bleibt allerdings, wie ein solches System der 'ideologischen Herrschaft', das auf kollektiv verstandenen Grundwerten und weithin akzeptierten Konstruktionen von Wirklichkeit beruht, in seiner bildlichen Ausdrucksweise derart stabil bleiben konnte, wenn die militärische und historische Realität, v.a. im 3. und 4. Jh. n. Chr. doch ganz anders aussah als die in den Bildern beschworene Sieghaftigkeit des Kaisers. [5]
In Zusammenschau sind Hölschers beharrliches Streben, die soziopolitische 'Lebenswelt' mit den Bildern in Zusammenhang zu bringen, und sein Vorschlag des 'konzeptionellen Realismus' zweifellos Meisterleistungen der semiotisch fundierten Bildanalyse. Angesichts jüngerer Entwicklungen in der deutschsprachigen Klassischen Archäologie hin zu einer auf Ästhetik und 'Eigengesetzlichkeiten' fokussierten Bildwissenschaft liefert dieses Buch ein beachtenswertes Plädoyer für die umfassende historische und kulturanthropologische Deutung griechisch-römischer Kunst.
Anmerkungen:
[1] Tonio Hölscher: Staatsdenkmal und Publikum. Vom Untergang der Republik bis zur Festigung des Kaisertums in Rom (= Xenia: Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen; Bd. 9), Konstanz 1984; ders.: Römische Bildsprache als semantisches System (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Heidelberg 1987.
[2] Tonio Hölscher / Rolf Lauter: Formen der Kunst und Formen des Lebens. Ästhetische Betrachtungen als Dialog von der Antike bis zur Gegenwart und wieder zurück (= Positionen zur Gegenwartskunst; Bd. 1), Ostfildern-Ruit 1995; Tonio Hölscher: Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten, Heidelberg 1998; ders.: Herrschaft und Lebensalter: Alexander der Große. Politisches Image und anthropologisches Modell, Basel 2009.
[3] Nordwestprovinzen: z.B. Valerie M. Hope: Trophies and Tombstones. Commemorating the Roman Soldier, in: World Archaeology 35 (2003), Nr. 1, 79-97; Martin Mosser: Die Steindenkmäler der Legio XV Apollinaris in Carnuntum, Wien 2003; Maureen Carroll: Spirits of the Dead. Roman Funerary Commemoration in Western Europe, Oxford 2006, 180-188; 209-229; Ian Haynes: Blood of the Provinces. The Roman Auxilia and the Making of Provincial Society from Augustus to the Severans, Oxford 2013; Dura Europos: Simon James: The Roman Military Base at Dura-Europos, Syria. An Archaeological Visualization, Oxford 2019; Gardesoldaten aus Rom: Alexandra W. Busch: Militär in Rom. Militärische und paramilitärische Einheiten im kaiserzeitlichen Stadtbild (= Palilia; Bd. 20), Wiesbaden 2011.
[4] Vgl. die sehr ähnlichen, wenn auch in ihren Folgerungen abweichenden Überlegungen bei Clifford Ando: Imperial Ideology and Provincial Loyalty in the Roman Empire, Berkeley 2000, 19-48.
[5] Zum Auseinanderdriften zwischen 'ideologischen Herrschern' und Beherrschten im Lauf der Kaiserzeit vgl. zuletzt Lukas de Blois: Image and Reality of Roman Imperial Power in the Third Century AD. The Impact of War, London / New York 2018, und Emma Dench: Empire and Political Cultures in the Roman World, Cambridge 2018, 33-45; 105-133.
Dominik Maschek