Günter Buchstab (Bearb.): Kohl: "Gelassenheit und Zuversicht". Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1980-1983 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 70), Düsseldorf: Droste 2018, L + 1144 S., ISBN 978-3-7700-1924-3, EUR 69,00
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Günter Buchstab / Philipp Gassert / Peter Thaddäus Lang (Hgg.): Kurt Georg Kiesinger (1904-1988). Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg: Herder 2005
Im Anfang war die Niederlage. Am 5. Oktober 1980 bestätigten die Wählerinnen und Wähler bei der Wahl zum 9. Bundestag die von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher geführte sozial-liberale Koalition, die seit 1969 regierte. Für die Unionsparteien, die mit großen Erwartungen angetreten waren, bedeutete dieses Ergebnis eine herbe Enttäuschung. Hatten sie 1976 mit ihrem Spitzenkandidaten Helmut Kohl die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt, so verloren CDU und CSU vier Jahre später mehr als vier Prozent der Stimmen und mussten die Hoffnungen auf einen schnellen Machtwechsel begraben. Helmut Kohl nahm intern kein Blatt vor den Mund: "Wir haben eine klare Niederlage erlitten [...]. Bezogen auf das Wahlergebnis von 1976 haben wir, abgesehen von dem Wahlergebnis von 1949, das man nicht zum Vergleich heranziehen kann, das schlechteste Wahlergebnis erreicht." (2) Dieser Misserfolg fiel nicht zuletzt auf den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß zurück, der - trotz beachtlicher Vorbehalte auch in den eigenen Reihen - als Kanzlerkandidat der Union ins Rennen gegangen war. Im "norddeutschen Bereich", so der Landesvorsitzende der CDU Bremen, Bernd Neumann, sei es unmöglich gewesen, "die jahrlangen [sic!] Verhetzungen gegen den Kanzlerkandidaten in dieser kurzen Zeit zu kompensieren" (32). Wenn Kohl zugleich Zuversicht verbreitete und betonte, die Union habe "eine gute Zukunftschance" (6), stehe sie doch einer Regierung gegenüber, "der die Probleme bereits in wenigen Wochen [...] über dem Kopf zusammenschlagen werden" (7), war dies nicht einfach so dahingesagt, um den enttäuschten Parteifreunden Mut zuzusprechen. Tatsächlich hatte die Koalition aus SPD und FDP zwar von der Wählerschaft ein neues Mandat erhalten, aber die Aussichten für die kommende Legislaturperiode schienen alles andere als rosig; das lag an den sicherheits- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen ebenso wie an den zunehmenden Konflikten zwischen Sozialdemokraten und Liberalen.
Dieser Spannungsbogen zwischen Enttäuschung und Erwartung, zwischen zorniger Resignation und kämpferischer Entschlossenheit, zwischen Frustration und Zukunftshoffnung bildet den Kern der Edition, die hier zu besprechen ist. Günter Buchstab legt mit diesem Band den neunten Teil der CDU-Bundesvorstandsprotokolle seit 1950 vor - eine zentrale Quelle für einen zentralen Zeitraum der Geschichte der "alten" Bundesrepublik, die sich schwer damit tat, von den Gewissheiten des "Wirtschaftswunders" Abschied zu nehmen und Antworten auf die Probleme zu finden, die das gebrochene Wachstum "nach dem Boom" mit sich brachte. Der ehemalige Leiter des Archivs für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung präsentiert 24 gewichtige Wortprotokolle der Sitzungen des CDU-Bundesvorstands zwischen der Wahlniederlage vom Oktober 1980, dem Regierungswechsel durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Oktober 1982 und den umstrittenen Neuwahlen vom März 1983, die den eigentlichen Beginn der Ära Kohl markieren. Diese Protokolle nehmen die Leserinnen und Leser mit in ein diskursives Zentrum politischer Aushandlungsprozesse und lassen sie teilhaben an den Gedanken, die nicht nur Helmut Kohl, sondern auch Ernst Albrecht, Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Gerhard Stoltenberg, Lothar Späth, Walter Wallmann, Richard von Weizsäcker oder Manfred Wörner umtrieben - nicht zufällig nur Männer, denn weibliche Stimmen wie die von Helga Wex - Vorsitzende der Frauenvereinigung der CDU - waren im Bundesvorstand der Christdemokraten selten.
Begleitet werden die Vorstandsprotokolle von einer instruktiv-routinierten Einleitung, in der die politischen Rahmenbedingungen sowie die wichtigsten Themen der Innen-, Deutschland- und Europapolitik umrissen werden, die Anfang der 1980er Jahre auf der Tagesordnung standen. Ziemlich kurz kommt die Entwicklung der CDU selbst, deren Geschichte im letzten Jahrzehnt der "Bonner Republik" noch geschrieben werden muss. Die kurzen Ausführungen über die intensive, durchaus kontroverse Programmarbeit zwischen Wahlniederlage und Regierungswechsel, das Ringen um Meinungsführerschaft auf zentralen Feldern der Gesellschaftspolitik, um eine angeschlagene Regierung durch "den Vorsprung in Sachkompetenz" (4) in die Enge zu treiben, deuten das Potenzial an, das in parteiengeschichtlichen Themen- und Fragestellungen steckt.
Die Diskussionen im Bundesvorstand der CDU wurden in der Regel durch Lageberichte des Parteivorsitzenden - und seit Oktober 1982 auch Bundeskanzlers - eröffnet, die für die Jahre zwischen 1982 und 1998 bereits als Edition vorliegen [1]. Helmut Kohl setzte damit den Rahmen, in dem sich die anschließende Diskussion bewegte, bestimmte Takt und Themen, ohne den Bundesvorstand jedoch zu einem Forum von Proklamation und Akklamation zu degradieren. Die Tagesordnung wurde vor allem vom Kalender der Parteitage und Bundesausschuss-Sitzungen bestimmt, die vorbereitet werden mussten, sowie von Wahlen, die es zu analysieren galt. Die Analyse von Wahlkämpfen und Wahlergebnissen nahm wiederholt breiten Raum ein, wobei die auf eineinhalb Tage angesetzte Diskussion im Dezember 1980 über die verlorene Bundestagswahl besonders hervorzuheben ist, für die eigens Elisabeth Noelle-Neumann vom Institut für Demoskopie in Allensbach in den Bundesvorstand eingeladen worden war. Mit den Wahlanalysen verbanden sich Debatten über die sich mehr und mehr zuspitzende Krise im Regierungslager sowie abwägende Überlegungen zu den eigenen Machtoptionen, die 1982 in immer konkretere Vorbereitungen zum Regierungswechsel mündeten.
Vier Themenkomplexe standen regelmäßig auf der Agenda: Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftspolitik; Staatsfinanzen und Haushaltskonsolidierung; Sicherheitspolitik, Nachrüstungsfrage und Friedensbewegung; Veränderungen im Parteiensystem der Bundesrepublik, das nach der Bundestagswahl vom Oktober 1980 noch so festgefügt erschien, dass Helmut Kohl feststellte: "Das Dreiparteiensystem, davon müssen wir ausgehen, hat sich als stabil erwiesen." (4) Der CDU-Vorsitzende hatte seine Rechnung freilich ohne die Grünen gemacht, die sich Anfang der 1980er Jahre von einem Sammelbecken heterogener ökologisch-alternativer politischer Strömungen zu einer Partei mit ernst zu nehmenden Erfolgsaussichten mauserten - einer Partei, die sich der Verortung im herkömmlichen Rechts-Links-Koordinatensystem entzog und daher auch für die CDU-Führung schwer fassbar war. Mit den "Chaotischen" (805) unter den grün-alternativen Aktivisten wusste sie wenig anzufangen, wohl erkannte sie aber, dass es "bei den Grünen eine Menge Leute" gebe, "die eigentlich von Hause aus willige CDU-Wähler sind" (810). Das hieß aber nicht mehr und nicht weniger, als dass die Union - nolens volens - nicht umhin konnte, sich mit Themen und Aktionsformen der Grünen auseinanderzusetzen.
Kurzfristig hatte der Erfolg grün-alternativer Gruppierungen bei den Landtagswahlen 1981/82 jedoch einen anderen Effekt: Es kam Bewegung in eine Koalitionsmechanik, die von der FDP als Mehrheitsbeschafferin abhängig war. Helmut Kohl stellte kurz und bündig fest, die Grünen hätten "die Veränderung der politischen Landschaft herbeigeführt [...], die wir uns wünschen. Das ist die vierte Partei, die wir gebraucht haben angesichts der Blockbildung von SPD und FDP." (769) Doch das war nur die eine, kurzfristige Seite der Medaille, die andere Seite schien Helmut Kohl zu erschrecken, der angesichts miserabler Umfragewerte für die SPD vor der für Oktober 1982 angesetzten Landtagswahl in Bayern feststellte: "Wenn eine Partei, die den Anspruch erhebt, eine der großen Säulen der Republik zu sein, im größten Flächenland einwohnermäßig auf ein Viertel der Wählerstimmen sich reduziert, ist das keine Sache, die unter dem Gesichtspunkt zu sehen ist, wer in München regiert, sondern das ist eine mittlere und langfristige Entwicklung, die katastrophale Bedeutung hat." (842) Hier befinden wir uns gleichsam an der Wiege eines Prozesses der Fragmentierung und Polarisierung des Parteiensystems, der bis heute anhält.
Kaum jemand wird bezweifeln, dass die CDU einer der bedeutendsten politischen Akteure in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen ist; entsprechend hoch ist der Quellenwert der Protokolle des wichtigsten Führungsgremiums dieser Partei einzuschätzen, die nun von 1950 bis Anfang 1983 ediert vorliegen. Wer sich mit der politischen Geschichte der späten "Bonner Republik" beschäftigt, wird an dieser Edition nur schwer vorbeikommen, an der es lediglich die etwas lieblosen Register und die stellenweise allzu spärliche Kommentierung zu kritisieren gilt.
Anmerkung:
[1] Vgl. Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982-1989. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschland, bearb. von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 2014, und Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1989-1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschland, bearb. von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 2012.
Thomas Schlemmer