Rezension über:

Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann (Bearb.): Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982-1989. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 65), Düsseldorf: Droste 2014, LXXV + 814 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-7700-1916-8, EUR 69,00
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Rezension von:
Peter Hoeres
Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
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Empfohlene Zitierweise:
Peter Hoeres: Rezension von: Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann (Bearb.): Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982-1989. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands, Düsseldorf: Droste 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/24971.html


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Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann (Bearb.): Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982-1989

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Aus dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin wurden bisher sechs Bände mit Verlaufsprotokollen der CDU-Vorstandssitzungen (für die Vorsitzenden von Konrad Adenauer bis Rainer Barzel) vorgelegt. Dann folgten 2012 die Berichte zur Lage des Parteivorsitzenden Helmut Kohl seit der Wende 1989 "nackt", das heißt ohne die folgende Aussprache und weitere Punkte der Tagesordnung. [1] Nun wurden die Berichte vor diesem Gremium vom konstruktiven Misstrauensvotum 1982 bis zum Vorabend der Wende 1989 vorgelegt. Hinweise auf die offenbar zum Teil sehr kontroversen Diskussionen wie etwa nach der Auswechselung des Generalsekretärs - Kohl ersetzte 1989 Heiner Geißler durch Volker Rühe - erschließen sich nur aus der Replik Kohls.

Kohls sehr umfangreiche, auf Stichpunkte gestützte freie Reden umfassten alle Felder der Politik, und sie enthalten darüber hinaus Betrachtungen zum Zeitgeist. Sie stellten ein zentrales Führungsinstrument des Parteivorsitzenden zur Ausrichtung und Mobilisierung der CDU dar. Dabei ermunterte und ermahnte Kohl die Vorstandsmitglieder immer wieder zum verstärkten Wahlkampfeinsatz. Inhaltlich vertrat er dagegen zumeist eine "mittlere Linie" (42), ja er dekretierte in der Debatte um den § 218 geradezu, eindeutige Positionen zu vermeiden. In der Deutschlandpolitik zeigt sich, dass Kohl einerseits am Prinzip der Einheit der Nation festhielt und damit an einer einheitlichen Staatsbürgerschaft. Auf der anderen Seite wollte er noch 1987 den Begriff "Wiedervereinigung" mit Blick auf das Ausland lieber nicht verwenden und stattdessen eben von der Einheit der Nation sprechen. Im Juni 1989 argumentierte der demoskopie-affine Kanzler dann mit einer positiven Einstellung von 80 Prozent der Bundesdeutschen zur Wiedervereinigung (Kohls handschriftliche Notizen zu dieser Sitzung zieren den Schutzumschlag des Bandes und sind in Faksimile und Transkription im Band abgedruckt).

Die Nation stand auch im Mittelpunkt der Geschichtspolitik von Kohl, aber doch ganz anders, als es seine Kritiker damals befürchteten. In der Sitzung vom 23. März 1983 finden sich Kohls Überlegungen zu Museumsgründungen in Bonn und Berlin in nuce. Er begründete das Bonner Haus der Geschichte ganz pragmatisch mit dem fehlenden historisch-politischen Angebot Bonns für Schülerbesuche. Das Berliner Museum sollte zur Festigung der Einheit der Nation dienen. Wer die Präambel des Grundgesetzes, das Wiedervereinigungsgebot also, ernst nehme, "muß eine Wende der deutschen Politik hin zur Geschichte und Tradition unseres Volkes machen, weil dadurch auch Zukunft erwächst. Dazu gehört allerdings für mich [...] die Frage der geistigen Wende". (72 f.) Dies war eines der wenigen Male, in denen Kohl das begrifflich nannte, was "man mit dem Thema der geistig-moralischen Wende angesprochen" habe (358), wie er sich bei anderer Gelegenheit distanzierend ausdrückte. [2] Insgesamt ging es Kohl mehr um das Interesse an der Geschichte im Allgemeinen als um eine spezifische geschichtspolitische Deutung. Entsprechend diente ihm der Historikerstreit nur als Beleg für eine "Renaissance des Geschichtsbewusstseins" (464). Als Begleitmusik der Wende, welche seine Kritiker zu vernehmen glaubten, empfand Kohl die so unterschiedliche Argumentation der Historiker Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Ernst Nolte und Michael Stürmer jedenfalls nicht. Noch nicht einmal einen Seitenhieb auf Jürgen Habermas erlaubte sich Kohl.

Mit den Kritikern hatte Kohl freilich seine Last. Während er über protestantische und jesuitische Prediger des Sozialismus spottete, empfand er schon Anfang 1983 die "elektronische Medienwand" als "außerhalb des verfassungsmäßig Erträglichen". (36) Die Personalpolitik der Union in den öffentlich-rechtlichen Sendern hatte sich nicht bezahlt gemacht, da sie zwar zu Besetzungen auf der Führungsebene führte, sich aber nicht auf die Inhalte der Sendungen auswirkte, für welche Kohl dem CDU-Vorstand viele Beispiele vortrug.

In der Außenpolitik sah Kohl es halbironisch als "wirkliches Pfund für uns" (33), dass man in den westlichen Hauptstädten davon ausgehe, dass Egon Bahr die SPD-Politik bestimme. Er selbst hielt die Nachrüstung für einen notwendigen, aber eigentlich nicht angestrebten Schritt zu einer Null-Lösung bei den Raketen in Europa, getreu seinem Wahlkampfschlager "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", welchen er der utopischen Forderung "Frieden schaffen ohne Waffen" gegenüberstellte. Dass die doppelte-Null-Lösung, die 1987 kam, eine erhebliche Verschlechterung der deutschen Lage bringen würde, da sie Deutschland als potentielles nukleares Schlachtfeld der Kurzstreckenraketen wahrscheinlicher machte, ging bei Kohl unter; er setzte auf den Einklang im Bündnis und schielte auf den Wahlkampf; später wurde sie durch den Zusammenbruch des Ostblocks dann ganz in den Hintergrund gedrängt.

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik konnte die schwarz-gelbe Regierung bis 1989, begünstigt von der Weltkonjunktur, zahlreiche Erfolge vorweisen, ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (von minus 1,1 Prozent im Jahr der Regierungsübernahme auf vier Prozent), eine sinkende Inflationsrate (von 5,2 auf 2,8 Prozent), eine Halbierung der Nettokreditaufnahme, eine Senkung der Staatsquote (von 47,5 auf 43,1 Prozent), eine große Steuerreform, eine Zunahme des Außenhandelssaldos um das Zweieinhalbfache und eine Zunahme an 1,2 Millionen Arbeitsplätzen (vgl. die Einleitung des Bandes, XLV f.). Da aber zugleich verstärkt Frauen und Ausländer auf den Arbeitsmarkt strömten, konnte die Arbeitslosenquote von über 7 Prozent nicht gesenkt werden. Kohl lastete die mangelnde Anerkennung bei der Inflationsbekämpfung auch der fehlenden Anstrengung des eigenen Vorstands an. Ein Gremium zu mobilisieren, das Alfred Dregger wie Rita Süssmuth, Vertreter der Sozialausschüsse wie diejenigen der Mittelstandsvereinigung umfasste, erwies sich als schwierige Daueraufgabe. Die Berichte zur Lage, versehen mit einem Personen- und Sachregister, sind eine gute Quelle, um einen Einblick in das Innenleben der Regierungspartei der "kurzen 1980er Jahre" zu erhalten.


Anmerkungen:

[1] Günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann (Bearb.): Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1989-1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 64), Düsseldorf 2012.

[2] Zum Begriff der "geistig-moralischen Wende" vgl. Peter Hoeres: Von der "Tendenzwende" zur "geistig-moralischen Wende". Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), 93-119.

Peter Hoeres