Hans-Christian Jasch / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Verfolgen und Aufklären / Crimes Uncovered. Die erste Generation der Holocaustforschung / The First Generation of Holocaust Researchers, Berlin: Metropol 2019, 352 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86331-467-5, EUR 24,00
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Die Genese der Holocaust-Forschung hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Angefangen mit Nicolas Bergs Studie "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker" dauert sie bis heute an. [1] Aktuell entstehen Studien über einzelne Pioniere wie Raul Hilberg, über die ersten Interviews mit Überlebenden aufgenommen auf Tonband durch David P. Boder, oder über literarische und wissenschaftliche Werke über die Shoa. [2] Diese Untersuchungen weisen darauf hin, dass die systematische Erforschung des Holocaust keinesfalls erst in den 1970er Jahren begann, wie lange angenommen wurde. [3] Dies belegt auch der Band "Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung", den Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt herausgegeben haben. Darin sind die Lebenswege von 22 Protagonisten enthalten, die teils bereits während des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar nach Kriegsende mit der Dokumentation der Verbrechen an den europäischen Juden begannen. Ihr Wirken ist eingerahmt in den historischen Kontext vor und nach Kriegsbeginn, dem sich verschiedene Aufsätze widmen. Hervorgegangen ist der Sammelband aus einer studentischen Ausstellung des Hauses der Wannsee-Konferenz (GHWK) und des Touro College Berlin, das gemeinsam mit der Wiener Library konzipiert und durch das Auswärtige Amt finanziert wurde. Anlass des Projektes, das die Studierenden 2017 und 2018 erarbeiteten und das Anfang 2019 erstmals gezeigt wurde, war der 70. Jahrestag der UN-Genozidkonvention vom 9. Dezember 1948. Die ursprüngliche Ausstellung war aufgeteilt in die drei Bereiche Dokumentation, Erinnerung und Verfolgung, in denen sich die vorgestellten Akteure besonders engagiert hatten. Der Sammelband geht dementsprechend auf diese Bereiche besonders ein; die Herausgeber entschlossen sich aber für eine alphabetische Auflistung der Pioniere, was auch daran liegt, dass sie schwerlich nur einem Feld zuzuordnen sind.
Den Biographien vorangestellt sind zwei Aufsätze der beiden Herausgeber. Stephan Lehnstaedt beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Minderheitenpolitik vor dem Holocaust am Beispiel Galiziens. Von dort stammten "viele der Mütter und Väter der frühen Holocaustforscher" wie Rachel Auerbach und Raphael Lemkin. (22) Bereits nach Ende des Ersten Weltkriegs erlebten sie antisemitische Ausschreitungen, über die sie nach 1945 ebenfalls schrieben. Hans-Christian Jasch untersucht anschließend die ersten Berichte über den Massenmord in der New York Times im Herbst 1941. Jasch verdeutlicht, dass die Verbrechen für die Zeitgenossen in den USA unglaublich erschienen. Den Berichten von Zeugen wurde daher selten geglaubt. Für die Vorbereitung der strafrechtlichen Verfolgung waren diese frühen Zeugnisse jedoch unabdingbar. An diesen Prozessen waren viele der in dem Sammelband vorgestellten Personen beteiligt. Hersch Lauterpacht beispielsweise arbeitete im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess für den britischen Ankläger Hartley Shawcross. Lauterpacht entwickelte zur juristischen Verfolgung den Strafbestand "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Der gelernte Architekt Simon Wiesenthal dokumentierte nach 1945 Täter und ihre Verbrechen, die er in verschiedenen Konzentrationslagern miterlebt hatte. Er versuchte die Täter aufzuspüren, damit sie juristisch für ihre Taten belangt werden konnten. Mit seiner Suche nach Beweismitteln trug er jedoch nicht nur zur juristischen Verfolgung, sondern auch zur historischen Dokumentation bei.
Ein besonderer Verdienst des Sammelbandes ist, dass er die Rolle von Frauen für die frühe Holocaust-Forschung explizit benennt. So gibt es etwa Überblicke über das Leben und Wirken von Rachel Auerbach, Maria Hochberg-Mariánska und Eva Reichmann. Auerbach entdeckte und erschloss nach Kriegsende das Ringelblum-Archiv, in dem sie gemeinsam mit einer Gruppe um Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto Dokumente über die Ermordung der Juden gesammelt hatte. Ringelblum hatte die Papiere im Zuge der Deportationen mit anderen Mitstreitern an verschiedenen Orten versteckt. Die Shoa überlebte er nicht. Durch Auerbach und ihren Fund erhielten Berichte von Überlebenden einen zentralen Stellenwert für die historische Beschäftigung mit dieser Zeit. Hochberg-Mariánska hielt nach Kriegsende insbesondere die Erfahrungen jüdischer Kinder fest. Sie arbeitete über zwei Jahrzehnte in Yad Vashem. Eva Reichmann übernahm ebenfalls bei der Sammlung von Berichten Überlebender für die Wiener Library in London eine zentrale Rolle. Kirsten Heinsohn schreibt derzeit eine Biographie über Reichmann. Neben diesen bereits bekannten Wissenschaftlerinnen widmet sich der Sammelband außerdem auch den "Vergessenen Forscherinnen", über die nur wenige biographische Informationen und Forschungsarbeiten vorhanden sind. Dabei hebt die Autorin Nora Huberty hervor, dass Frauen zweifellos eine prägende Bedeutung für die frühe Holocaust-Forschung hatten - anders als gemeinhin angenommen. Allerdings blieben sie trotz ihrer essentiellen Leistungen bei der Erforschung und Dokumentation vielfach unsichtbar. Denn auch aufgrund der gängigen Rollenbilder bekleideten Männer die Führungspositionen. Huberty verweist auf verschiedene Beispiele: Ada Eber unterstützte ihren Mann, Philip Friedman, bei seinen umfangreichen Publikationen über den Holocaust. Nella Rost leitete während des Krieges die Krakauer Abteilung der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission und eine Forschungsabteilung des World Jewish Congress. Genia Silkes arbeitete ebenfalls in der Jüdischen Historischen Kommission sowie nach Kriegsende am Jüdischen Wissenschaftlichen Institut in Paris. Über diese Forscherinnen und ihre wissenschaftliche Arbeit ist nur wenig bekannt, da sich die historiographische Forschung bisher überwiegend auf die bekannten Formen wissenschaftlicher Beiträge, etwa in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften oder Verlagen stützte oder auf zentrale Figuren in Forschungseinrichtungen und Universitäten konzentrierte. Die Rolle von Frauen, die vielfach unterstützend in weniger sichtbaren Positionen forschten, wird dabei übersehen. Es ist eine wesentliche Leistung des Sammelbandes, dass er diese Problematik thematisiert und damit auf eine wesentliche Forschungslücke hindeutet.
Dem biographischen Teil folgen weitere Aufsätze, die die Tätigkeiten der Protagonisten stärker in den historischen Kontext der Nachkriegszeit rücken. Christine Schmidt und Ben Barkow zeigen beispielsweise die Rolle der Wiener Library auf. Nadav Heidecker erläutert die Erinnerung an die Shoa in Israel und die unterschiedlichen Narrative von Yad Vashem und dem Ghetto Fighter House.
Der Sammelband legt insgesamt einen Fokus auf verschiedene Bereiche der frühen Holocaust-Forschung, die bisher nur marginal betrachtet worden sind: Zeitlich blickt er auf Pioniere, die unmittelbar nach Kriegsende oder bereits während des Krieges aktiv wurden. Dazu verbindet er ihre verschiedenen Beiträge in der Strafverfolgung, der Dokumentation oder der Forschung. Die Errungenschaften auf diesen Feldern werden parallel, und nicht wie meist üblich separat, betrachtet. Gleichzeitig wirft der Band einen Blick auf Forscherinnen und Forscher, die überwiegend aus osteuropäischen Ländern stammten. Bisher wurden primär Wissenschaftler aus westlichen Ländern behandelt. Zur Veranschaulichung tragen außerdem zahlreiche Bild- und Schriftquellen bei. Damit gelingt dem Sammelband "Verfolgen und Aufklären" insgesamt ein wichtiger Beitrag zu den Wurzeln der Holocaust-Forschung, der eine Bandbreite verschiedener (neuer) Perspektiven einbezieht.
Anmerkungen:
[1] Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2004.
[2] http://www.gmoe.uni-jena.de/index.php?id=55; https://www.zfl-berlin.org/projekt/fruehe-schreibweisen-der-shoah.html (13.05.2020). Zudem arbeitet René Schlott am ZZF Potsdam an einer Biographie über Raul Hilberg.
[3] Elisabeth Gallas: Documenting Cultural Destruction. The Research Project of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction, 1944-1948, in: Regina Fritz / Eva Kovács (Hgg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte, Wien 2015, 45-62.
Anna Corsten