Wolfhard Weber: Briefe und Berichte eines Industriespions. Friedrich August Alexander Eversmann in England (= Bochumer Studien zur Technik- und Umweltgeschichte; Bd. 7), Essen: Klartext 2019, 264 S., zahlr. Abb., 3 Tbl., 2 Kt., ISBN 978-3-8375-2033-0, EUR 29,95
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Mit dem Beginn der von England ausgehenden Industrialisierung wurden der Transfer und die Zirkulation von technischem und technologischem Wissen zunehmend institutionalisiert und von staatlichen Stellen gelenkt. Insbesondere die in der Abgrenzung zur Grand Tour als technologische Reisen bezeichnete Mobilität technischer Spezialisten hat seit den 1970er Jahren die Aufmerksamkeit der Forschung geweckt, ohne dass dabei das Feld der Industriespionage systematisch erschlossen worden wäre. Stattdessen ist eine Konzentration auf bekanntere Akteure, vor allem des späten 18. Jahrhunderts, zu konstatieren, deren Berichte sowohl von der Technik- als auch der Wirtschaftsgeschichte in den Blick genommen wurden. Zu nennen sind hier etwa der Franzose Gabriel Jars oder Reinhold R. Angerstein. [1] Für den deutschen Sprachraum ist das Thema in den vergangenen Jahren kaum untersucht worden. Die nun vorliegende Edition setzt hier an, indem sie am Beispiel Preußens die deutsche Industriespionage in England im späten 18. Jahrhundert in den Blick nimmt. Der Herausgeber greift damit ein Themengebiet auf, das er schon 1974 in seiner Antrittsvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum kartiert hatte. [2]
Die vorliegenden Briefe und Berichte stammen von Friedrich August Alexander Eversmann (1759-1837), der 1781 unter dem preußischen Minister und Oberberghauptmann Heynitz zunächst die Stelle eines Bergsekretärs, später eines Berg- und Fabrikkommissars für die Grafschaft Mark erhielt. Wie der Herausgeber in der konzisen Einleitung (7-82) über die heynitzschen Reformen und die Einführung der Dampfmaschine in Preußen erklärt, baute der Minister "Eversmann fest in die seit 1777 betriebene Reform des preußischen Berg- und Hüttenwesens ein". (8) Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Eversmann ihm zu berichten hatte, als er 1783/84 in die Niederlande und nach England entsandt wurde, um Informationen über den dortigen Stand der Industrialisierung zu sammeln (8). Seine Mission ermöglichte ihm offensichtlich einen Karriereschub, denn nach seiner Rückkehr versorgte ihn der 1783/84 zum Regionalminister für Westfalen ernannte Heynitz mit weiteren Ämtern. (ebd.) In der Einleitung geht der Herausgeber auf Eversmanns Biografie und Werdegang ein, skizziert dann aber vorranging die heynitzschen Pläne und Projekte. Innovationen im Bergbau sowie die Einführung der Dampfmaschine in Preußen bilden hier einen Schwerpunkt. Der Einleitung angefügt sind 23 Abbildungen und Kommentare zur Einführung der Dampfmaschine in Preußen. Eversmanns den Briefen und Berichten beigefügte, hier gestochen scharf gedruckte, teilweise im DIN A4 Format ausklappbare Zeichnungen, zeigen eindrücklich die epistemische Praxis von Wissens- und Technologietransfer. Deutlich tritt insbesondere der Zusammenhang von Bild und Schrift für den Wissenstransfer hervor, wie ihn schon die Arbeiten zu den Maschinenzeichnungen seit der Renaissance zeigen.
Die Edition der Briefe und Berichte bildet den zweiten Teil des Bandes (109-253). Sie entstammen der im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz erhaltenen Reiseakte Eversmanns. Das von ihm in den Briefen wiederholt angekündigte und schließlich wohl 400 Seiten in zwei Bänden umfassende Reisejournal ist hingegen verloren. (52) Insofern eröffnen die hier vorliegenden Akten tatsächlich einen einzigartigen Einblick in die "Arbeit" eines deutschen Industriespions im Schlüsselmoment der Industrialisierung.
Den Anfang der Edition bildet die Instruktion für Eversmann, aus der nicht nur die genaue Reiseroute, sondern auch die Hauptinteressen seines Auftraggebers hervorgehen. Deutlich wird hier, dass sich seit den metallurgischen Reisen Gabriel Jars', dessen gleichnamiges, posthum von seinem Bruder herausgegebenes Werk eine klassische Route für technologische Reisen durch die Niederlande und die britischen Inseln entwickelt hatte, eine mehr oder minder feste Reiseroute etabliert hatte. Ihr war auch Reinhold R. Angerstein rund 30 Jahre zuvor gefolgt. Informationsbedarf bestand in Preußen beispielsweise hinsichtlich der niederländischen Fabriken für Farbstoffe, des eisenverarbeitenden Gewerbes sowie des britischen Hüttenwesens und der dortigen Salzgruben. In Sheffield hatte Eversmann sich auf die berühmten Streckmühlen zu konzentrieren, die englische Methode der Eisengießerei auszukundschaften und schließlich Informationen über die Gewehr- und Kanonenproduktion in Birmingham zu beschaffen. Seine Berichte hatte er in vierwöchigem Abstand direkt an Heynitz abzusetzen. Der Instruktion angefügt sind Empfehlungsschreiben an den außerordentlichen preußischen Gesandten Spiridon von Lusi, der Eversmann bei seiner Mission unterstützen sollte, sowie zwei Karten, die den Reiseplan Eversmanns durch Großbritannien sowie seine Reise anhand der Berichtsorte visualisieren. Es folgen sodann 15 Briefe Eversmanns sowie einige Berichte und Erklärungen zu Zeichnungen, von denen einige bereits im 18. Jahrhundert im Bergmännischen Journal sowie in den Technologischen Bemerkungen publiziert worden sind.
Als eigentlicher Hauptteil der Edition geben die Briefe und Berichte einen tiefen Einblick in Eversmanns Mission. Aus London berichtet er von der Größe der Stadt und den - aus Kostengründen zu Fuß zurückzulegenden - Wegen zu den zahlreichen Häusern, zu denen er "recommandirt" war. (120) Überhaupt spielen die zur Verfügung stehenden Reisemittel, deren Erhöhung stetig erbeten wird, eine zentrale Rolle. Ebenfalls aus London berichtet er von einer durch Alexander Brodie erfundenen Entsalzungsmaschine für Meerwasser, von der ein Modell bereits nach Russland gesandt worden sei, und eines für Portugal sich in der Herstellung befinde. (121) Von der Praxis der Informationsbeschaffung erfahren wir, dass selbige schwieriger geworden sei, "da so viele Franzosen und Amerikaner [...] umschwärmen", ja, dass man begonnen habe Fremde übel zu behandeln, mittlerweile sogar "Avertissements in die öffentlichen Blätter [setze], die gleich Steckbriefen den und jenen Reisenden, den man in Verdacht [der Industriespionage] hat, zu charakterisieren" (154). Aber auch seine Strategien, dennoch an die erhofften Informationen zu gelangen, skizziert Eversmann genau. So sollte der Besuch eines drei- bis viermonatigen "Cursum in der Chemie" es ihm erlauben, ohne Verdacht zu wecken für längere Zeit in Birmingham zu verweilen, um die dortigen Fabriken zu erkunden. (139)
Aus technik- und wirtschaftsgeschichtlicher Sicht sind seine Berichte über das Fassungsvermögen von Öfen, die Zahl der benötigten Arbeiter und den geschätzten Verbrauch von Brennstoff, ebenso über die Gehälter und die Betriebskosten einzelner Anlagen interessant, daneben erlaubt der Bericht über die Alaunherstellung vom Mai 1784 Aussagen darüber, wie konkret man in Preußen über das in Yorkshire angewandte Verfahren informiert werden wollte und wie genau es Eversmann gelang, auf die ihm übersandten 17 Fragen Antworten zu finden. Eine Aufstellung von Eversmanns Veröffentlichungen und ein knappes, leider unvollständiges Personenregister schließen den Band sodann ab. Misslich ist das Fehlen eines Ortsverzeichnisses, das einen schnellen Abgleich mit den Berichten Jars' oder Angersteins und damit den Blick auf Entwicklungen der englischen Industrialisierung in dieser dynamischen Zeit ermöglicht hätte.
Das vielschichtige Bild der britischen Industrie und Wirtschaft, das in den hier edierten Quellen hervorscheint, wird durch die editorische Arbeit getrübt. Dass nicht ersichtlich ist, ob einer irgendwie gearteten Editionsrichtlinie gefolgt wurde, mag dabei noch das geringste Problem sein. Auffallend sind Inkonsistenzen bei Überschriften und Datumsangaben der edierten Briefe. Mal werden Marginalien in einer Anmerkung genannt (bspw. 144, 179), ein anderes Mal wird zu Beginn des Regests bloß angemerkt: "(Mit zahlreichen Marginalkommentaren von Heynitz)"(164). Die aber wären im vorliegenden Fall gerade interessant gewesen. Transkriptions- und Lesefehler finden sich auch in der Abschrift einer 1791 im Bergmännischen Journal gedruckten Erläuterung eines Göpels (anders als angegeben allerdings Jg. 4, Bd. 1), wo der den Druckbogen kennzeichnende Kustode am Seitenende offenbar nicht als solcher erkannt wurde. (230) Weder gibt es einen textkritischen Apparat noch ein Glossar, das jenen Lesern, die nicht dem Kreis der Technik- und Wirtschaftshistoriker angehören, die Lektüre erleichtern würde. Und auch ein Siglen- und Abkürzungsverzeichnis hätte den Band abrunden können, denn mancher Leser mag mit englischen Maß- und Währungseinheiten wenig vertraut sein.
Trotz dieser Mängel ist es ohne Frage das Verdienst der vorliegenden Edition, dass die wiederentdeckten Briefe Eversmanns nun leicht zugänglich sind. Sie erlaubt nun einen selten tiefen Einblick in die Praxis, Erwartungen und Herausforderungen des Transfers von technisch-ökonomischem Wissen insbesondere im deutschsprachigen Raum des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Anmerkungen:
[1] Gabriel Jars: Voyages métallurgiques ou récherches et observations sur les mines et forges de fer, 3 Bde., Paris 1774, dt. Ausgabe durch Carl Abraham Gerhard: Metallurgische Reisen zur Untersuchung und Beobachtung der vornehmsten Eisen- Stahl- Blech- und Steinkohlen-Werke in Deutschland, Schweden, Norwegen, England, und Schottland, 4 Bde., Berlin 1777; Torsten Berg / Dieter Berg (Hgg.): R. R. Angerstein's Illustrated Travel Diary, 1753-1755. Industry in England and Wales from a Swedish Perspective, London 2001. Seit der positivistischen Darstellung des Technologietransfers zwischen England und Frankreich im 18. Jahrhundert von John R. Harris: Industrial Espionage and Technology Transfer. Britain and France in the 18th Century, Aldershot u.a. 1998, ist Industriespionage im Zeitalter der (Früh-)Industrialisierung allenfalls als Nebenschauplatz in den Blick geraten.
[2] Publiziert in leicht veränderter Fassung als Wolfhard Weber: Industriespionage als technologischer Transfer in der Frühindustrialisierung Deutschlands, in: Technikgeschichte 43 (1975), 287-385.
Sebastian Becker