Marek Nekula: Tod und Auferstehung einer Nation. Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen. Neue Folge; Bd. 79), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 726 S., ISBN 978-3-412-22396-0, EUR 75,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Neil Stewart: Bohemiens im böhmischen Blätterwald. Die Zeitschrift Moderní revue und die Prager Moderne, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019
Die menschliche Kultur wird in hohem Maße von der Auseinandersetzung mit dem Tod geprägt. Jenseitsvorstellungen, Begräbnisrituale, Bestattungspraktiken usw. zeugen nicht nur von den unterschiedlichen Einstellungen zu den letzten Dingen in den jeweiligen Gesellschaften, sondern werfen auch ein Licht auf deren soziales, politisches und kulturelles Profil. Die komplexen Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Tod demonstriert, vorwiegend mit böhmischem beziehungsweise tschechischem Bezug, eindrucksvoll das neueste Buch des Regensburger Slavisten Marek Nekula, das 2017 auch in einer tschechischen Ausgabe erschien. In dieser voluminösen, informativen und spannend zu lesenden Monografie zielt der Verfasser vor allem darauf ab zu zeigen, "wie die Historiografie der tschechischen Literatur die große Erzählung der Sprache und des Schrifttums beziehungsweise der Nationalliteratur 'von Anbeginn bis in unsere Tage' erschuf, wie sich dieses Narrativ in der Darstellung Josef Dobrovskýs, Josef Jungmanns und weiterer Autoren dann allmählich zum Narrativ von 'Geburt', 'Aufblühen', 'Blütezeit', 'Verfall' und 'Erneuerung' der Sprache, Literatur und Nation formte und wie es sich in einer nationalen Bestattungspraxis mit der Symbolik von 'Tod' und 'Auferstehung' anlässlich der Begräbnisse von 'Zeugen', die für die Nation und die nationalen Belange eingetreten waren, konkretisierte" (639).
Die Thematik wird im Einleitungs- und im Resümeekapitel in ihren komplexen Zusammenhängen anschaulich gemacht. Hingegen stellen die acht Hauptkapitel in sich weitgehend selbstständige Studien zu unterschiedlichen Aspekten des behandelten Phänomens dar. In Kapitel 1 werden Begräbnisse bedeutender Persönlichkeiten, Denkmäler und Pantheons in ihrer kulturellen Funktion für Nation und Öffentlichkeit beleuchtet, wobei der Fokus auf der tschechischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts liegt. Der zentrale Begriff "Pantheon" wird über den künstlerisch-architektonischen Bereich hinaus auch auf Literatur und Literaturgeschichtsschreibung ausgedehnt, wo der Verfasser vergleichbare Strategien zur Entfaltung einer nationalen Erinnerungskultur am Werke sieht. In den folgenden Kapiteln stehen zunächst Geschichte, Formen und Funktionen des Pantheons in seiner eigentlichen Bedeutung im Mittelpunkt des Interesses.
In Kapitel 2 schlägt Nekula einen weiten Bogen von den Anfängen des Pantheons in der römischen Antike bis hin zu den neuzeitlichen Entwicklungen solcher Bauwerke in Italien, England, Frankreich und Deutschland. Besondere Aufmerksamkeit wird der auch für Böhmen vorbildhaften Walhalla bei Regensburg zuteil. Kapitel 3 widmet sich dem Begriff des Pantheons und seinem Bedeutungswandel sowie alternativen Termini wie "Walhalla" im Deutschen oder "Slavín" im Tschechischen. Auf dieser Grundlage stellt der Verfasser in Kapitel 4 einige bekannte Beispiele böhmischer beziehungsweise tschechischer Pantheons vor, angefangen bei aristokratischen Projekten wie dem von Franz Zacharias von Römisch Anfang des 19. Jahrhunderts gestalteten Felsen-Pantheon in der nordböhmischen Burg Vranov bei Malá Skála oder Anton Veiths Slavín bei Liběchov in Mittelböhmen. Im Rahmen eines Vaterländischen Museums (heute Nationalmuseum) sollten Mitte des 19. Jahrhunderts nach Plänen von František Palacký ein dem österreichischen Kaiser gewidmetes "Francisceum" und eine "böhmische Walhalla" eingerichtet werden. Die damit verbundenen Debatten und Entwicklungen werden von Nekula ebenfalls detailliert geschildert. Das nächste Kapitel richtet den Blick auf die im Zuge der immer stärker werdenden tschechischen Nationalbewegung zelebrierten Begräbnisse von Repräsentanten der tschechischen Literatur und Kultur. Damit werden nach Nekula Tod und Auferstehung der Nation zur "rituelle[n] Festigung der Identität durch Erinnerung" (301) inszeniert. Ausführlich beschrieben werden die Begräbnisse von Josef Jungmann, Karel Havlíček-Borovský, Václav Hanka, Božena Němcová, František Palacký und (als Beispiel einer negativen Erinnerung) Karel Sabina. Kapitel 6 stellt den 1862 gegründeten Verein Svatobor und dessen Rolle bei der Herausbildung einer nationalen Erinnerungskultur vor. Zu den Aktivitäten des Vereins gehörten unter anderem die Organisation nationaler Gedenkfeiern und die Akquirierung von Geldern für den Bau von Denkmälern für Repräsentanten des tschechischen Kulturlebens.
Eingehend behandelt werden in Kapitel 7 bekannte und für den Nationalisierungsprozess typische Prager Pantheons: der Slavín auf dem Vyšehrad, das Pantheon im Nationalmuseum, der sogenannte "Bürgermeistersalon" im Gemeindehaus (obecní dům) und schließlich, als Beispiel für ein "säkulares Pantheon" des 20. Jahrhunderts, das Denkmal der nationalen Befreiung auf dem Vítkov-Hügel. Große Bedeutung im Hinblick auf den Widerstand gegen die deutsche Besatzung erlangte auch die Überführung der sterblichen Überreste Máchas aus Litoměřice nach Prag, wo der Dichter 1939 auf dem Vyšehrader Friedhof zum zweiten Mal beerdigt wurde. Mit diesem Begräbnis erfuhr Mácha auch endgültig seine Anerkennung als tschechischer Nationaldichter. Dem metaphorisierten Konzept des Pantheons widmet sich Kapitel 8, das die Entwicklung der böhmischen und tschechischen Literaturgeschichtsschreibung von den Biografie-Sammlungen der Aufklärungszeit bis hin zu den Überblicksdarstellungen des 19. Jahrhunderts verfolgt. Die in diesen Werken erkennbaren Bemühungen um Kanonbildung und die Schaffung einer nationalen Erinnerungskultur werden auf vergleichbare Prozesse bei der Errichtung tschechischer Nationalpantheons projiziert.
Nekulas Studie ist im besten Sinne eine Kulturgeschichte des tschechischen Nationalisierungsstrebens unter dem spezifischen Blickwinkel von Tod und Auferstehung. Das klug aufgebaute, an erhellenden Beispielen reiche Buch deckt nicht nur eine große Themenpalette ab, sondern besticht auch durch die breite methodische Kompetenz des Verfassers, der historiografische, kultursemiotische, soziologische sowie sprach-, literatur- und kunstwissenschaftliche Ansätze geschickt miteinander zu verknüpfen weiß. Damit schafft es Nekula, einer alten Thematik viele neue und überraschende Einsichten abzugewinnen. Wie der Verfasser im abschließenden Ausblick zeigt, ist das Buch nicht nur für Bohemisten von Interesse, sondern bietet auch für andere Disziplinen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Anregungen.
Reinhard Ibler