Rezension über:

Marcus Warnke: Logistik und friderizianische Kriegsführung. Eine Studie zur Verteilung, Mobilisierung und Wirkungsmächtigkeit militärisch relevanter Ressourcen im Siebenjährigen Krieg am Beispiel des Jahres 1757 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 50), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 696 S., 54 Farb-, 8 s/w-Abb., 94 Tbl., ISBN 978-3-428-15371-8, EUR 139,90
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Rezension von:
Marian Füssel
Historisches Seminar, Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Marian Füssel: Rezension von: Marcus Warnke: Logistik und friderizianische Kriegsführung. Eine Studie zur Verteilung, Mobilisierung und Wirkungsmächtigkeit militärisch relevanter Ressourcen im Siebenjährigen Krieg am Beispiel des Jahres 1757, Berlin: Duncker & Humblot 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32569.html


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Marcus Warnke: Logistik und friderizianische Kriegsführung

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Die Frage, wie es Preußen unter Friedrich II. gelang den Siebenjährigen Krieg gegen eine Übermacht von Gegnern nicht zu verlieren, hat bereits Generationen von Historikerinnen und Historikern beschäftigt. Individuelle Willensstärke des genialen Feldherrn, sein besonderes Charisma, die Bündelung der Befehlsgewalt in einer Person oder ein loyales und opferbereites Offizierskorps und die patriotische Motivation von Bevölkerung wie Soldaten galten der borussisch gesinnten Geschichtsschreibung lange als tragfähige Erklärungsansätze. Dem setzt die Potsdamer Dissertation von Marcus Warnke nun das explizit "revisionistische" Argument entgegen, dass die "besondere Stärke der preußischen Armee und ihrer Kriegführung in der Logistik bzw. ihrer Fähigkeit zur Mobilisierung der militärisch relevanten Ressourcen" (22) gelegen habe. Warnke steht damit selbst in einer Tradition, in der, wie etwa sein Doktorvater Peter Michael Hahn es tut, an einer sozialgeschichtlich motivierten Dekonstruktion des überkommenen Bildes friderizianischer Kriegführung gearbeitet wird. So rücken beispielsweise ökonomische Faktoren als Determinanten des Siebenjährigen Kriegs in den Mittelpunkt. [1]

Die Arbeit gliedert sich nach einer Einleitung zu Forschungsstand, Quellen und Methoden in sechs Kapitel. Warnke hat Material aus über 25 Archiven zusammengestellt und damit eine beachtliche Rechercheleistung erbracht, die die Verluste des am 14. April 1945 zerbombten Heeresarchivs in Potsdam zu weiten Teilen kompensieren kann. Der historische Forschungsfortschritt im Selbstbewusstsein der akribischen Archivaliennutzung führt Warnke allerdings manchmal übers Ziel hinaus, wenn er mit Forschungspositionen und methodischen Ansätzen wie etwa der Kulturgeschichte allzu hart ins Gericht geht oder etwa bei der "Sensibilisierung" für den "genuinen Authentizitätsgehalt" der Literatur ausgerechnet ein weitgehend fiktives Selbstzeugnis, wie das des Rittmeisters Logan-Logejus, für "unproblematisch" erklärt (45). Seine Vermessung des Forschungsstandes hat deutliche Lücken in der Literatur nach 1945. So fehlen vollständig die Arbeiten von Sascha Möbius, Daniel Hohrath oder Jürgen Kloosterhuis ebenso wie die jüngeren Synthesen von Matt Schumann / Karl W. Schweizer, Daniel Baugh und Franz A. Szabo; Schumann / Schweizer und Baugh immerhin mit viel Blick für Logistik und Szabo als scharfer Kritiker jedweder Friedrich-Glorifizierung. [2] Die Friedrich-Biografien von Gerhard Ritter, Theodor Schieder und Johannes Kunisch werden indes als antiquierter Forschungsstand zur Zielscheibe (60-62), was nicht zuletzt deshalb ungerecht ist, weil eine Monografie wie Kunischs Mirakel des Hauses Brandenburg, ein Text, in dem explizit strukturhistorisch argumentiert wird, überhaupt keine Berücksichtigung findet. [3] Man fragt sich, warum Warnke es angesichts seiner breiten Quellenbasis für nötig erachtet, den Forschungsstand so selektiv zu präsentieren, als habe die Forschung zum Siebenjährigen Krieg eine Art hundertjährigen Dornröschenschlaf hinter sich.

Im ersten Kapitel wird die Bedeutung der Logistik vor dem Hintergrund des von der bisherigen Historiografie gezeichneten Bildes friderizianischer Kriegführung erörtert (60-81). Der Hauptgegner Warnkes ist das sogenannte preußische Generalstabwerk zu den Kriegen Friedrich des Großen (3. Teil, 10 Bde., 1901-1912), dessen Bearbeitern immer wieder die Berechnung falscher Zahlen vorgerechnet wird. In einem zweiten, sehr informativen Kapitel werden die "Kernelemente der Heeresversorgung" vorgestellt, wie Verwaltungsorganisation, Magazinwesen, Truppenverpflegung, Pferdeverpflegung, Waffen und Bekleidung oder Transportwesen zu Lande und zu Wasser (82-168).

Den empirischen Hauptteil der Arbeit bildet der 4. Teil mit einer Fallstudie zum Feldzug von 1757, der u.a. die bekannten Schlachten von Prag, Kolin, Rossbach und Leuthen umfasste (210-612). Inzwischen kaum noch überraschend, erklärt der Autor die Methode eines Zeitgenossen des Krieges, des Freiherrn Friedrich Wilhelm Ernst von Gaudi (1725-1788), zur konzeptionellen Richtschnur seiner eigenen "minutiösen Rekonstruktion" (209). Wie ideologische Effekte aus einer falschen Darstellung der Heeresstärken entstehen konnten, zeigt Warnke anhand der Schlacht bei Prag (277). Friedrichs Armee siegte nicht in Unter-, sondern in Überzahl von rund 80.000 zu 72.000 Mann. Bei Kolin waren dann die Preußen tatsächlich auch zahlenmäßig unterlegen (324f.), doch Friedrich habe eine taktische Fehlentscheidung nach der anderen getroffen.

Mit Roßbach und Leuthen treten dann zwei der berühmtesten Schlachten des Siebenjährigen Krieges in den Blick, für die Warnke jeweils ein logistisch bedingtes Entscheidungsszenario entwirft. Für den horrenden Verlust der kombinierten Streitmacht aus Reichsarmee und Franzosen bei Roßbach macht Warnke eindeutig deren 'Ausgehungert-sein' und Entkräftung angesichts schlechter Versorgung mit Lebensmitteln und Pferdefutter verantwortlich. Doch kommt Warnke nicht umhin, zudem das "nahezu optimale Zusammenwirken der preußischen Waffengattungen" (524) in Anschlag zu bringen. Bei Leuthen sei es dann die mangelnde Ausrüstung von Österreichern und Reichsarmee mit Munition und Geschützen (589-595) gewesen, die schlachtentscheidend war, nicht etwa die erfolgreiche Umsetzung der schiefen Schlachtordnung auf erprobtem Terrain. Schlachten sind für Warnke größtenteils Zahlenkalkulationen und Aufmarschpläne werden zu 'Materialschlachten' im unmittelbarsten Sinn. Von den tatsächlichen Gewaltpraktiken oder den Wahrnehmungen und Deutungen der Zeitgenossen erfahren wir fast nichts. Trotz aller Zahlenakribie werfen manche Werte Rätsel auf: So seien in der Schlacht von Leuthen ca. 3.000 Männer getötet worden (595), dann werden aber rund 6.000 Mann auf dem Schlachtfeld begraben (596). Hier wären zumindest genauere Angaben zu den im Nachhinein verstorbenen Verwundeten sinnvoll gewesen. Der Krieg gerät immer mehr zur körperlosen Arithmetik und entspricht damit dem militärischen Zeitgeist der Spätaufklärung. Weiterführend ist hingegen die klar strukturierte Aufschlüsselung des die Kriegführung bestimmenden Faktorenbündels, in der Warnke die Engführung auf Ressourcen aufbricht und um Aspekte wie Kommunikation, Wetter oder Konfession erweitert (613-643).

Die Unmenge an Zahlenmaterial (94 Tabellen) macht die Arbeit zu einem wichtigen Nachschlagewerk, erschwert allerdings enorm die Lesbarkeit. Mit dem Bewusstsein, die Archivalien auf seiner Seite zu haben, führt Warnke ein Plädoyer für eine erneuerte Operationsgeschichte des "tatsächlich" Relevanten gegenüber den von der neuen Militärgeschichte angeblich überbetonten "Randphänomenen" (30). Die Arbeit ist zweifellos verdienstvoll und wichtig als sozialhistorisches "Korrektiv" (209) vieler falscher Daten und der daraus entstandenen Mythen. Einen Ausweg aus dem Dilemma einer vielfach theoretisch geforderten, aber selten empirisch eingelösten, modernen methodischen Standards genügenden Operationsgeschichte weist sie jedoch nicht. Zu selbstsicher werden heuristische Vorgehensweisen und Darstellungskonventionen des 18. und 19. Jahrhunderts wiederbelebt, die nicht nur als Lektüre extrem harte Kost sind, sondern auch in der Theorie- und Methodenlandschaft historischer Forschung am Beginn des 21. Jahrhunderts seltsam antiquiert wirken müssen. Warnkes Revision führt grob vereinfacht vom Bild eines ressourcenschwachen Staates mit einem starken König zu einem ressourcenstarken Staat mit einem König mit Fehlern. Die Dekonstruktion des Personenkultes im Zahlengewitter hinterlässt Preußen als überlegene logistische Infrastruktur und leistet damit statt konsequenter Historisierung vielleicht ungewollt neuer Mythenbildung aus dem Geist des kriegsgeschichtlichen Positivismus Vorschub.


Anmerkungen:

[1] Peter-Michael Hahn: Friedrich II. von Preußen. Feldherr, Autokrat und Selbstdarsteller, Stuttgart 2013.

[2] Matt Schumann / Karl W. Schweizer: The Seven Years War: a transatlantic history, London (u.a.) 2008, 91-130; Franz A. J. Szabo: The Seven Years War in Europe, 1756-1763, Harlow 2008; Daniel A. Baugh: The Global Seven Years War, 1754-1763. Britain and France in a great power contest, Harlow 2011.

[3] Johannes Kunisch: Das Mirakel des Hauses Brandenburg. Studien zum Verhältnis von Kabinettspolitik und Kriegführung im Zeitalter des Siebenjährigen Krieges, München 1978.

Marian Füssel