Holger Thünemann / Jürgen Elvert / Christine Gundermann u.a. (Hgg.): Begriffene Geschichte - Geschichte begreifen (= Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken; Bd. 3), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2016, 201 S., ISBN 978-3-631-70571-1, EUR 39,95
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Treten Herausgebende an, um einen renommierten Geschichtstheoretiker wie Jörn Rüsen anlässlich seines 50. Promotionsjubiläums zu ehren, stellt sich schnell die Frage nach der Form. Eine Festschrift zum Promotionsjubiläum ist eine seltene Gattung, weshalb es umso mehr Spannung erzeugt, wie die vier aus Köln stammenden ProfessorInnen den Sammelband anlegen. Zunächst fällt auf, dass man den Jubilar Jörn Rüsen aufgrund seiner (inter)nationalen Verdienste um Geschichtstheorie, Geschichtsdidaktik und Kulturwissenschaft ins Zentrum stellt und dabei vor allem seine Kölner Zeit, in welche die Abfassung seiner Dissertation fällt, emporhebt. [1] Bereits beim Lesen der über sieben Seiten gezogenen Grußworte seitens der Honoratiorinnen und Honoratioren aus Politik und Wissenschaft befällt einen das Gefühl, dass die Übung keine leichte ist. Es besteht die Gefahr, in Plattitüden zu verfallen, an den eigentlichen Leistungen des zu Ehrenden vorbeizuschreiben oder gar die Gattung zu verkennen. Gleichzeitig sind auch seine lokalen, nationalen, internationalen und interdisziplinären Wege zu skizzieren. Umso entspannter wird man jedoch, je mehr das Buch zum eigentlichen Kern vordringt, den acht Beiträgen, die von Freundinnen und Freunden und Wegbegleiterinnen und -begleitern verfasst sind und um solche jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ergänzt werden, die ihre Arbeiten auf dem Fundament von Jörn Rüsen durchführten.
Beim Rezensieren einer "Ehrenschrift" könnte schnell der Eindruck erweckt werden, dass die Besprechung des Buches aufgrund einer wie auch immer gearteten akademischen Freundschaft wohlwollend vorgenommen wurde, weshalb der Ton dieses Beitrages sich dagegen zu stemmen versucht, um einer kritischen "Beschau" gerecht zu werden. Betrachtet man den gesamten Sammelband so fällt nämlich auf, dass darin anlässlich der Ehrung von Jörn Rüsen ganz unterschiedlich ausgerichtete Texte versammelt sind. Mindestens drei verschiedene Umsetzungen sind erkennbar: 1) Texte, die dem zu Ehrenden und seinen Gedanken und Schriften eine zentrale Rolle zugestehen; 2) Texte, die insbesondere das Ich der Autorinnen oder Autoren selbst zeigen und dabei nahezu den Jubilar vergessen und 3) Texte, die auf der Grundlage von Jörn Rüsens Theorien und Einsichten Neues berichten. Die Grenzen sind abschnittsweise fließend, aber erkennbar.
Unter dieser Perspektive, vor allem im Ringen um die passende Form für den selten begangenen Anlass, liegt aber letztlich ein besonderer Reiz dieses Buches. Betrachtet man etwa die Ausführungen von Wolfgang Hasberg zu den Arbeitsfeldern Jörn Rüsens, die er stets in enger Anbindung an dessen Beschäftigung mit Johann Gustav Droysen entwickelt, drängt sich einem die Wahrnehmung auf, dass damit eine Ehrung vorgenommen wird, die nahezu bar jeder Kritik ist. Auslegungsunterschiede in der Theoriebildung werden zwar angedeutet, gleichzeitig aber auch abgeschoben. Sie allerdings auf wenige Punkte zu beschränken, schmälert fast die Leistungen und Dispute, die Rüsen zu seinen eignen zentralen Konzepten führte. [2] Unbenommen davon markiert Hasbergs Beitrag aber dennoch einen aufschlussreichen Zugang zur Wirkmächtigkeit älterer Werke und Diskurse in Rüsens Schriften. Den Beitrag von Robert Traba und Holger Thünemann kann man diesbezüglich durchaus als Fortsetzung zu Hasbergs Ausführungen lesen. Die beiden Autoren stellen die polnische Rezeption der Rüsenschen Theorien in den Mittelpunkt und diskutieren damit die deutsch-polnischen Verbindungen sowie Impulse, die von den geschichtsdidaktischen Konzeptionen Rüsens ausgingen.
Eine brasilianische Perspektive bringt Estevão C. de Rezende Martins ein. In seinem theoretischen Essay, in dem er - eng an der Ideenwelt Rüsens - geschichtstheoretische Einsichten bietet, fasst er historisches Denken als analytisches und kritisches Denken, welches vor allem der Geschichtswissenschaft zugesprochen wird. Es stünde in einer Spannung zur Geschichtsvermittlung, also zu Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern, die Martins beide - was nicht unproblematisch ist - als Reproduzentinnen und Reproduzenten der gelehrsamen Produkte klassifiziert. Er relativiert zwar diese Trennung aufgrund der existierenden "transtemporalen Dialoge" (zum Beispiel zwischen Generationen und verschiedenen Formen des Umgangs mit Vergangenheit) und versucht dann ein konsensuales Wissenschaftsmodell zu skizzieren, welches in einigen Punkten nahe an Rüsens Vorstellungen liegt. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass sich hinter der theoretischen Darstellung so manche interkulturelle Verwechslung verbirgt. Genau dieser Problematik nimmt sich Bodo von Borries an. Sein Beitrag, der erfahrungsgesättigt vom internationalen Wissenschaftsbetrieb und seinen Begegnungen zu berichten versucht, ist unterhaltsam geschrieben und bietet eine seltene interkulturelle Einführung im Umgang mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nicht in Mitteleuropa sozialisiert wurden. Begegnungen und Erlebnisse, die der Autor und Jörn Rüsen - manchmal sogar zusammen - erlebten, werden darin eingewoben. In einer Tabelle ordnet von Borries dabei seine Kernaussagen zu Sprachen, Kommunikationsformen, Umgang mit Finanzen, Traditionsselbstverständlichkeiten, Asymmetrien und Zielsetzungen innerhalb von interkulturell angelegten Projekten, womit er oftmals ein "tacit knowledge" eines erfahrenen Professors offenlegt und durchaus pointiert vorträgt.
Weitaus systematischer ist der Beitrag von Peter Seixas aufgebaut, der Rüsens "Triftigkeiten" ("plausibilities") für den anglo-amerikanischen Raum näher betrachtet und entlang von Jörn Rüsen, Andreas Körber, Hayden White, Peter Lee und William Cronon einen spannungsreichen Abgleich verschiedener Konzepte sucht. Besonderes Augenmerk legt Seixas dabei auf die normative Triftigkeit sowie die ethischen Dimensionen von Geschichte. [3]
Interkulturelle Begegnungen im Bereich der Geschichte, ein Gebiet, das Jörn Rüsen selbst durchdachte, stand auch am Horizont als Jürgen und Urte Kocka ihren Beitrag zur Globalgeschichte verfassten. Dem Beitrag kennt man die unterschiedlichen Spuren des Geschichtswissenschaftlers und der Geschichtsdidaktikerin an. In relativ isolierten Teilen argumentiert Jürgen Kocka engagiert für eine Hinwendung zur Globalgeschichte der Arbeiterschaft und die dafür notwendigen Schritte, während Urte Kocka ihre bereits bekannte Position gegenüber der Globalgeschichte für den Geschichtsunterricht darlegt. Es ist in Summe jedoch auffällig, dass die beiden sich durchaus auf ein Plädoyer für die "Big History" einlassen konnten, ein bisher im deutschsprachigen Diskurs eher wenig beachtetes Konzept.
Einen Teilaspekt der Geschichtsdidaktik nimmt auch Klas-Göran Karlson in seinem Beitrag auf, indem er die Auswahl der Inhalte für den Geschichtsunterricht erörtert. Karlson betont, man solle keine Abbilddidaktik der Geschichtswissenschaft betreiben, sondern vielmehr die Geschichtskultur als prägenden Faktor sowie die daran gebundene individuelle Rezeption der Lernenden in den Vordergrund stellen. Durch die Perspektive kämen Prinzipien wie ein Gegenwarts- und Lebensweltbezug, Alteritätserfahrungen und Fremdverstehen ebenso in den Fokus wie die Fragen nach den Möglichkeiten einer Umsetzung von Rüsens Typologie historischen Erzählens.
Juliane Tomann gehört mit ihren Ausführungen zu jenen, die Rüsens Theorien anwenden. Sie dekliniert anhand von Fallbeispielen in gekonnter Manier unter Bezugnahme auf Rüsens Konzepte durch, wie man historische Darstellungen hinterfrage kann. Dabei greift sie auf die Systematiken der De-Konstruktion der internationalen Projektgruppe FUER-Geschichtsbewusstsein zurück. [5] Ihr Beispiel, die Bewerbung der Stadt Katowice als europäische Kulturhauptstadt, zeigt sich dabei als durchaus produktiv. Wenn auch aufgrund des schmalen Umfangs des Beitrages manche Argumentationen zu kurz kommen - etwa warum und wie die Bürgerinnen und Bürger der Stadt die angebotenen Deutungen der Vergangenheit durch eine Werbefirma und die städtische Administration ablehnten -, sind die Ausführungen schlüssig, hätten jedoch eine fruchtbare Erweiterung erfahren, wenn auch Rüsensche Konzepte wie etwa Ästhetik, Politik und Metakognition berücksichtigt worden wären.
Besonders zu erwähnen sind die englischen Abstracts und die deutschen Zusammenfassungen am Ende der Beiträge, die einen Schnellzugang zu den Inhalten ermöglichen und damit eine Orientierung im Sammelband erleichtern. Sie zeugen von der akkuraten Arbeit der Herausgebenden und dem Versuch, den Band auch in groben Zügen einem internationalen Publikum näher zu bringen. Wer sich mit Jörn Rüsen aus bekannten, aber auch ganz neuen Perspektiven beschäftigen möchte, dem sei der Band - auch oder gerade wegen seiner mancherorts spürbaren Eklektik - zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie G. J. Droysens, Paderborn 1969.
[2] Vergleiche exemplarisch zur Kritik der Historik Jörn Rüsen: Historik: Umriss einer Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (2011), Heft 4, 477-490.
[3] Vergleiche zur Debatte der Übersetzungsleistungen zwischen deutschen und anglo-amerikanischen Konzepten auch: Peter Seixas: In Search of narrative Plausibility, in: Public History Weekly 4 (2016) 41, DOI: public-history-weekly.degruyter.com (zuletzt aufgerufen am 01.10.2017).
[4] Die komplette Arbeit von Tomann ist bereits erschienen: Juliane Tomann: Geschichtskultur im Strukturwandel. Öffentliche Geschichte in Katowice nach 1989, Oldenburg 2016.
[5] Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007.
Christoph Kühberger