Ulrich Lappenküper (Hg.): Otto von Bismarck und das "lange 19. Jahrhundert". Lebendige Vergangenheit im Spiegel der "Friedrichsruher Beiträge" 1996-2016, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 1187 S., ISBN 978-3-506-78697-5, EUR 49,90
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Am Ende der Lektüre schwirrt der Kopf von den vielen Aspekten, Beobachtungen und Interpretationen, vom vielen Bismarck und, Bismarck als, Bismarck im Urteil von. Das alles will verdaut sein, wenn man sich durch 56, teils kürzere, teils längere Aufsätze hindurchgearbeitet hat. Sie sind, das darf ohne Arg gesagt sein, Dubletten, zuvor bereits erschienen in der Schriftenreihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung, den "Friedrichsruher Beiträgen". Unter den Autoren, ausnahmslos Kenner der Materie, finden sich nur drei Frauen, wohl ein Indiz dafür, dass sich die Genderhistorie des Themas und des Mannes nicht recht annehmen mag. Ein spezifisch weiblicher Blick jedenfalls fehlt in diesem Sammelband. Er beginnt mit der Festrede, die Henry A. Kissinger aus Anlass von Bismarcks 100. Todestag gehalten hat: eine Verbeugung vor dem "großen Staatsmann", die Bögen von der Vergangenheit in die Gegenwart schlägt, im Lichte der Geschichte Möglichkeiten und Grenzen aufzeigt, eine funktionsfähige "Weltordnung" zu organisieren. Den Reigen der Beiträge beschließt der Museumspädagoge Maik Ohnezeit mit einer Fallstudie, die das Augenmerk auf ein eher peripheres Problem lenkt: auf die Hochzeit der Hohenzollernprinzessin Viktoria Luise mit dem Welfenprinzen Ernst August aus dem Hause Cumberland, mit der ein drei Jahrzehnte währendes Interregnum im Herzogtum Braunschweig beendet und das Kriegsbeil zwischen den beiden seit 1866 verfeindeten Dynastien einstweilen begraben wurde.
Die Artikel dieser Anthologie sind chronologisch nach dem Datum der Erstpublikation angeordnet. Das hat zur Konsequenz, dass ein innerer Zusammenhang nur selten gewährleistet ist. In der Regel stehen die abgedruckten Aufsätze unverbunden nebeneinander. Nach "Bismarck und Rußland" werden wir zum Beispiel mit "Bismarck und Moltke" konfrontiert, dann mit "Theodor Mommsen und das Kaiserreich", gefolgt von Überlegungen, die unter dem Signet "Bismarcks langer Schatten" dem "Amt des Reichskanzlers" und dessen Inhabern in der Weimarer Republik gelten. Das ist nicht unbedingt ein Schade, lädt zum Blättern und punktuellen Lesen ein, nicht jedoch zu kontinuierlichem Studium des Gesamtwerks. Ein Personen- und Sachregister, das leider fehlt, hätte die Benutzung zweifellos erleichtern können. Es ließen sich in diesem Zusammenhang vielleicht Zweifel anmelden, warum ein solches, vermutlich doch aufwendiges und kostenträchtiges Unternehmen überhaupt nötig war. Wer freilich die Kataloge der großen Universitätsbibliotheken konsultiert, wird rasch gewahr, dass die "Friedrichsruher Beiträge" allenthalben nur unvollständig verzeichnet sind. Insofern mag es durchaus sinnvoll erscheinen, dass sie nun noch einmal in gebündelter Form beinahe vollständig verfügbar gemacht worden sind. Geboten wird damit sowohl ein Querschnitt durch die jüngere Bismarck-Forschung als auch eine bilanzierende Leistungsschau, mit der die Stiftung ihre breit gefächerten wissenschaftlichen Aktivitäten dokumentiert.
"Ein geschlossenes Bild von Bismarck und seiner Epoche" solle nicht gezeichnet werden, betont einleitend der Herausgeber Ulrich Lappenküper, aber "wichtige Facetten" sind es schon. Es versteht sich von selbst, dass der Außenpolitik des Protagonisten und den im weitesten Sinne internationalen Beziehungen erhebliches Gewicht zukommt. Knapp ein Viertel der Beiträge, die kaum eine Konstellation auslassen, handelt davon, teils auf die Ära Bismarck konzentriert, teils darüber hinausgreifend. Klaus Hildebrand etwa analysiert "Akteure und System der europäischen Staatenwelt" und wählt dazu einen Titel, der nicht nur von Gerhard Ritter entlehnt ist, sondern auch an dessen Interpretationslinie gemahnt: "Staatskunst und Kriegshandwerk". Beides lässt sich schwerlich voneinander scheiden, zur Politik der Vorkriegsjahre gehörte wie selbstverständlich das Hantieren mit dem Krieg. "Militärische Denken beeinflußte zunehmend mehr das politische Denken", konstatiert der Autor: "Die Staatsmänner, die für Verlauf und Ausgang der Julikrise letztlich verantwortlich waren, dachten ihrerseits, teilweise sogar bevorzugt, in militärischen Kategorien". Während Bismarck noch in den Bahnen eines durch die Reichsgründung zwar veränderten, aber in der Absicht friedenssichernden Gleichgewichts operierte, zielte das "imperialistische System" nach der Jahrhundertwende auf Expansion und militärische Gewalt. Die "große Politik" erschien den Verantwortlichen in den europäischen Kabinetten wie ein "kühnes Duell, in dem die Ehre wichtiger war als das Überleben". Die Entscheidungen trafen zwar nicht die Generäle, sondern die Politiker, aber sie handelten, so Hildebrand, nicht nach den Maximen der "Staatskunst", sondern denen des "Kriegshandwerks".
Ein zweiter Bereich gilt dem, wie es mit einer inzwischen zu modischer Konvention geronnenen Wendung heißt, "langen" 19. Jahrhundert. Die damit angedeutete Zeitdimension wird indes nur ein, zwei Mal beiläufig erwähnt, nicht aber problematisiert. Immerhin legen die Überlegungen der Hamburger Historikerin Barbara Vogel über den Stellenwert des Jahres 1807 für die Entwicklung Preußens nahe, dass mit dem Koselleckschen Begriff der "Sattelzeit" noch ein anderes Periodisierungsangebot bereitliegt. Wie dem auch sei: Unter den Studien, die sich mit den inneren Verhältnissen des Deutschen Reichs beschäftigen, sollen hier - ohne Geringschätzung der übrigen - nur zwei erwähnt werden. Die eine lenkt das Augenmerk auf "Bismarcks Arbeiterversicherung", mithin auf ein Thema, von dem mancher glauben mag, dazu sei bereits alles gesagt. Dass dem nicht so ist, macht auf eindrückliche Weise Florian Tennstedt klar. Er wirft die Frage auf, ob die einprägsam populäre Formel "Zuckerbrot und Peitsche", mit der die Sozialgesetze mit dem Sozialistengesetz verknüpft werden, ein "analytisch brauchbares Deutungsmuster" sei. Die Antwort lautet: Nein. Das richtet sich gegen die von Franz Mehring, Hans Rothfels und anderen vertretene These, dass sich dahinter eine "intentionale Doppelstrategie" verborgen habe. Mit Hilfe einer dichten Argumentation rückt der Autor in diesem Punkt die Proportionen zurecht, gleichermaßen bestätigend und relativierend, überdies an eine an sich triviale, aber stets von neuem zu beherzigende Maxime erinnernd, wonach nicht zeitgenössische Rhetorik für die historische Urteilsbildung maßgebend sei, sondern allein quellengestützte minutiöse Analyse. Der andere, hier zu erwähnende Beitrag stammt von Gangolf Hübinger, der Theodor Mommsens "Rolle als Intellektueller im Strukturwandel zur industriellen Massengesellschaft und der Ausbildung neuer Politikstile" nachspürt. Mommsen, zugleich Wissenschaftler, Abgeordneter und Journalist, repräsentierte wie kaum ein zweiter den Typus des Gelehrtenpolitikers im "Geist von 1848". Dazu gehörte eine "spezifische Form der Lebensführung und Wertorientierung des protestantischen Bildungsbürgertums", resümiert der Autor: "In diesem Kanon fallen nationale Identitätsgeschichte, bürgerliche Liberalisierungsgeschichte und persönliche Freiheitsgeschichte zusammen." Das schloss Aversionen gegen den politischen Katholizismus ein, Ressentiments gegen die Juden, die der Berliner Kollege Heinrich von Treitschke beförderte, jedoch ausdrücklich aus.
Dem engeren Lebenskreis Bismarcks, und das ist ein drittes Feld, das im Sammelband bewandert wird, sind insgesamt vier Aufsätze gewidmet. Da geht es um die Provinz Pommern, in der die Bismarcks begütert waren, um "Bismarck als Gutsherr", um "Bismarck im O-Ton", also um jene erst kürzlich entdeckte, auch in der Tagespresse gewürdigte Aufnahme mit einem von Thomas Edison entwickelten Phonographen im Oktober 1889. Hervorzuheben ist hier die eindringliche Studie von Christian Rau: eine auf ungewöhnlich intensiver Quellenforschung und ebenso intensiver methodischer Reflexion fußende Staatsexamensarbeit aus dem Jahr 2010. Unter der Begriffstrias "Erholungsstätte, Wirtschaftsbetrieb, Erinnerungsort" diskutiert sie die Bedeutung des Güterkomplexes Varzin, erworben 1867 mit Hilfe einer königlichen Dotation und alsbald fideikommissarisch gebunden. Daraus erwächst eine bemerkenswert informative, vielfach Neuland betretende wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische Untersuchung, die manch älteren, lieb gewordenen Klischees kritisch zu Leibe rückt. Neben etlichen anderen zählt sie zu den empirischen und argumentativen Glanzlichtern des hier angezeigten Sammelbandes.
Aufs Ganze gesehen macht dieser einmal mehr deutlich, dass der Politiker Bismarck, dessen Wirken und die daraus erwachsenen Konsequenzen, worüber Gerhard Ritter unter dem Stichwort "das Bismarckproblem" noch 1950 in geschichtspolitischer Absicht räsonieren konnte (Heft 6 der Zeitschrift Merkur), heute längst zum Objekt nüchterner Historisierung geworden ist.
Jens Flemming