Philippe Gauthier: Études d'histoire et d'institutions grecques Choix d'écrits (= Hautes Études du Monde Gréco-Romain; 47), Genève: Droz 2011, VIII + 760 S., ISBN 978-2-600-01364-2, EUR 90,00
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Der hier zu besprechende Band enthält insgesamt 26 Aufsätze Philippe Gauthiers aus den Jahren 1974 bis 2005 zur Epigrafik der klassischen und hellenistischen Epoche, die (wie auch alle seine übrigen Publikationen) in französischer Sprache verfasst sind. Unterteilt sind die Schriften in die sechs Untergruppen I. Citoyens et non-citoyens, II. Institutions judicaires, III. Économie et finances, IV. Régimes politiques, V. Assemblées et Gymnase, VI. Honneurs. Die Aufsätze selbst wurden unverändert, wenngleich in neuer Setzung, nachgedruckt. Lediglich in drei Aspekten (von der Korrektur kleinerer Druckfehler abgesehen) weichen die Zweitpublikationen von den Originalen ab: Wird an einer Stelle auf einen ebenfalls in diesem Band nachgedruckten Aufsatz oder eine andere Seite desselben Aufsatzes verwiesen, wurde dort auch die neue Paginierung ergänzt (etwa 362, Anm. 36 oder 663, Anm. 1). Verweist ein Aufsatz auf eine Inschrift, von der mittlerweile eine verbesserte oder nun überhaupt eine Edition vorliegt, oder auf einen damals noch in Vorbereitung befindlichen Aufsatz, wird auf diese Publikation hingewiesen (etwa 338, Anm. 64 oder 628-629). Zuletzt wurden am Schluss einiger Aufsätze bibliografische Ergänzungen unterschiedlichen Umfanges beigefügt. [1]
Auch wenn sowohl die Zugänglichkeit der Erstpublikationen als auch der Charakter der einzelnen Aufsätze (allgemeinere Studien vor Spezialstudien) bei der Aufnahme eine Rolle gespielt haben (VII), so scheint letztgenanntem Aspekt doch die größere Bedeutung zuzukommen. Ein nicht unbedeutender Anteil der Aufsätze nämlich findet sich in Zeitschriften, die entweder von größerer Bedeutung und daher in vielen Bibliotheken aufzufinden sind (etwa der Chiron) oder durch Digitalisierungsprozesse online (frei) zugänglich sind (etwa die Revue des études grecques). Das aber lässt umso stärker hervortreten, dass es sich nicht einfach nur um eine Sammlung nachgedruckter Forschungsbeiträge handelt, sondern angesichts des allgemeineren Charakters des Bandinhalts auch um eine Möglichkeit, sich systematisch durch breiter gefasste Einzelstudien der griechischen Epigrafik sowie dem Griechenland der klassischen und hellenistischen Zeit anzunähern.
Besondere Beachtung verdient das Schriftenverzeichnis Gauthiers (675-698), das von dem Herausgeber Denis Rousset zusammengestellt wurde. Dieses umfasst die 217 Publikationen aller Art (Monografien, Herausgeberschaften, Aufsätze, Forschungsberichte, Rezensionen und Beiträge für ein breiteres Publikum), die Gauthier seit 1960 verfasst hat. Nach Ansicht des Rezensenten wäre es die bessere Entscheidung gewesen, die Schriften nicht rein chronologisch, sondern zunächst unterteilt nach Monografien, Aufsätzen und Rezensionen zu ordnen, doch mindert dies den Wert der Zusammenstellung nicht. Was aber macht diese Publikationsliste nun so besonders? Hier wäre zunächst die Tatsache zu nennen, dass auch die in solchen Listen oft beiseite gelassene Rezensionstätigkeit vollständig berücksichtigt wurde (die mit 68 Titeln fast ein Drittel ausmacht, hinzu kommen noch neun "présentations"). Ebenso ist anzuführen, dass auch Schriften aufgenommen wurden, die keinen Bezug zu Gauthiers althistorischer Tätigkeit aufweisen. [2] Am wichtigsten ist jedoch, dass der Angabe jedes Aufsatzes, der nicht in dem Band abgedruckt wurde (und bei dem es sich nicht um einen reinen Forschungsbericht handelt), eine kurze Zusammenfassung der zentralen Thesen beigefügt wurde und somit ein großer Teil von Gauthiers Gesamtwerk über die aufgenommenen Schriften hinaus leicht erschlossen werden kann.
Der achte Aufsatz zu den griechischen Münzlegenden ("Légendes monétaires grecques" (1975), 171-191) bietet dadurch, dass er als numismatische Studie gegenüber den ansonsten epigrafischen Beiträgen des Bandes herausragt - laut dem Quellenregister handelt es sich um den einzigen Aufsatz, der überhaupt Münzen als Quelle berücksichtigt -, zugleich eine Gelegenheit. Die inschriftenkundlichen Beiträge haben von den beiden früheren Rezensenten des Bandes (siehe Anm. 3) eine ausgesprochen positive Beurteilung erfahren. Wie verhält es sich nun mit dieser münzkundlichen Studie?
Gauthier diskutiert hierin die Deutung und die Aussagekraft der Münzlegenden griechischer Städte an drei von sieben möglichen Beispielen: Angabe des Ethnos, Götternamen und Namen von Magistraten. Er stellt hierzu die unterschiedlichen belegten Variationen (so ist beispielsweise der Göttername manchmal im Nominativ, manchmal im Genitiv angegeben) zusammen, diskutiert die Relevanz der Unterschiede (die teils ohne Bedeutung sind, teils aber die Aussage der Legende verändern) und prüft die von der Forschung geäußerten Hypothesen auf ihre Plausibilität. Dieser Beitrag fällt in mehrfacher Hinsicht positiv auf: Die Sprache ist klar und verständlich, ein Übermaß an hochspezieller und selbst dem Muttersprachler sicher nicht immer verständlicher Fachbegriffe wird vermieden. Auch werden keine Wahrheiten mit Allgemeingültigkeitsanspruch proklamiert, sondern Möglichkeiten mit Bedacht diskutiert und auf ihre Probleme hingewiesen, ohne von vornherein Optionen zu verwerfen. Auch wenn die griechische Numismatik sowohl durch Neufunde als auch durch weitere Studien Fortschritte gemacht haben mag, kann dieser Aufsatz als exemplarische Einführung noch immer von großem Nutzen sein.
Es ließe sich gewiss das eine oder andere Detail bemängeln (einige mögliche Kritikpunkte bietet die Rezension Thonemanns (siehe Anm. 3)), doch handelt es trotz allem sich um einen nützlichen Band, dessen Wert über die reine Zusammenstellung von Aufsätzen hinausgeht und der sich bei näherem Hinsehen als erheblich vielseitiger erweist, als dies die mit ungewöhnlicher Konsequenz durchgeführte Spezialisierung Gauthiers auf den ersten Blick erwarten lässt. Jedem, der mit griechischer Epigrafik und Geschichte zu tun hat, ist damit ein wertvolles Hilfsmittel gegeben. [3]
Anmerkungen:
[1] Am umfangreichsten sind die Ergänzungen zu Aufsatz XIX über die Institution des misthos in Ath. Pol. 41,3, die sich 513-515 finden. Ergänzungen größeren Ausmaßes wurden Aufsatz VII (über athenische Dekrete der hellenistischen Zeit, 168), Aufsatz IX (über den athenischen Getreidehandel, 219) und Aufsatz XXI (über das Gymnasion der hellenistischen Städte, 550) beigegeben. Aufsatz III (über die Bewilligungen athenischen Bürgerrechts, 54) und Aufsatz IV (über die verschiedenen rechtlichen Stellungen der Fremden in der griechischen Stadt, 77) bieten jeweils nur einen Titel zur Ergänzung; Aufsatz VI verweist angesichts der ähnlichen Thematik auf die Ergänzungen von Aufsatz VII (144).
[2] Bei Titel Nr. 84 ("Adieu à Hergé", 684) handelt es sich um einen Nachruf auf den Comiczeichner Hergé, der unter anderem der Schöpfer von "Tintin" (dem deutschen Publikum bekannt als "Tim und Struppi") war. Titel Nr. 100 ("Lucky Luke, le cow-boy exemplaire", 685) befasst sich mit Lucky Luke, dem von dem Comiczeichner Morris erschaffenen Westernhelden. Wiemers Besprechung des Bandes (siehe Anm. 3) ist zu entnehmen, dass dieser Bereich des Schriftenverzeichnisses noch ausbaufähig ist.
[3] Siehe auch die bisherigen Rezensionen: Peter Thonemann, in: Klio 94 (2012), Nr. 2, 523-525 und Hans-Ulrich Wiemer, in: Bryn Mawr Classical Review September 2012, Nr. 31 (http://bmcr.brynmawr.edu/2012/2012-09-31.html).
Raphael Brendel