Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916-1931, London: Allan Lane 2014, XXIII + 644 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-1-846-14034-1, GBP 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hgg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe, Stuttgart: Theiss 2013
Christa Hämmerle / Oswald Überegger / Birgitta Bader-Zaar (eds.): Gender and the First World War, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014
Dirk Schindelbeck / Christoph Alten / Gerulf Hirt u.a. (Hgg.): Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg: Jonas Verlag 2014
Regina Frisch (Hg.): Kochen im Ersten Weltkrieg. Drei Kriegskochbücher aus Bayern, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018
Guenther Roth / John Röhl (Hgg.): Aus dem großen Hauptquartier. Kurt Rietzlers Briefe an Käthe Liebermann 1914-15, Wiesbaden: Harrassowitz 2016
Volker R. Berghahn: America and the Intellectual Cold Wars in Europe. Shepard Stone between Philanthropy, Academy, and Diplomacy, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2001
Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München: C.H.Beck 2009
Hans Günter Hockerts (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1966-1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden: NOMOS 2006
Dieses Buch ist ein großer Wurf. Es reiht sich ein in die vielfältige Literatur, die soeben zur Geschichte des Ersten Weltkriegs erschienen ist, aber es ragt deutlich daraus hervor. Adam Tooze stellt andere Fragen und widmet sich einem anderen Untersuchungszeitraum. Er kommt zu Ergebnissen, die die Forschung vorantreiben werden. Das gilt nicht zuletzt für die deutsche Geschichtswissenschaft, die über kulturgeschichtliche Zugänge und vergleichende Ansätze das Bild vom Ersten Weltkrieg immer tiefenschärfer gezeichnet hat, darüber aber den traditionellen Grundannahmen verhaftet geblieben ist.
Diese Grundannahmen kreisen um die fatale Allianz der industriellen, agrarischen und militärischen Eliten bei der Anbahnung des Krieges und um die politisch blinde, militärisch rücksichtslose Art der Kriegführung. Nach dem Waffenstillstand und der Revolution seien es dann der "Wilson-Frieden" und der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrags gewesen, die der parlamentarischen Demokratie von Weimar die Luft abschnürten und Hitler möglich machten. Daran ist viel Wahres, aber es ist das Geschichtsbild der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. 1949 war das Bekenntnis zur liberalen Demokratie etwas Neues, Positives. Es ließ die Erinnerung an die Demokratie der 1920er Jahre einschrumpfen auf deren Scheitern in der Weltwirtschaftskrise mit der Machtübertragung an Hitler. Tooze weist nach, wie einseitig verkürzend eine solche Sicht ist.
Insgesamt erkennt er in der internationalen Historiographie zwei etablierte Trends; der eine hat vornehmlich die Ausbreitung des Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus im Blick, der andere den Fehlschlag einer "liberalen Hegemonie" in der Nachkriegsordnung der 1920er Jahre. Zwischen beiden, sagt Tooze, gebe es einen blinden Fleck, und der verdecke die widersprüchliche Neuartigkeit der politischen Lage in allen Ländern, mit der das Führungspersonal und die Parlamente der Großmächte nach dem Weltkrieg konfrontiert waren.
Von Anbeginn misst Adam Tooze dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson als Visionär und Vorkämpfer eines liberalen Internationalismus die herausgehobene Rolle zu. Die Darstellung setzt ein mit dem Jahr 1916, als die amerikanische Wirtschaftskraft erstmals die des britischen Empire überstieg. Da England seit 1914 mit seinem politischen und militärischen Engagement in den drei Weltregionen Europa, Asien und dem atlantischen Raum selbst unter Einbeziehung der Ressourcen des britischen und französischen Empire nicht in der Lage war, eine weltumspannende wirtschaftliche und politische Ordnung zu gewährleisten, glitten die USA in diese kriegsbedingte Leerstelle globaler Ordnungskompetenz hinein. Bevor Washingtons Kriegseintritt als Reaktion auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Kaiserreichs (Februar 1917) denkbar wurde, hatte Wilson im Januar 1917 seine Vision der liberalen Weltordnung dargelegt. "Peace without victory" als Ordnungskonzept der Weltführungsmacht USA wurde zur Leitlinie. Tooze nimmt diese These zum roten Faden des Buchs.
In vier Teilen und 26 Kapiteln machen die wenigen Kriegsjahre bis zum Friedensschluss und dann das ganze Nachkriegsjahrzehnt jeweils die Hälfte des Umfangs aus. Daher liegt der Schwerpunkt auf der Anfangszeit. Mit dem Ansatz der politischen Ökonomie hat Tooze sowohl die Finanzmärkte, Staatsfinanzen und Verschuldungsdynamiken im Blick als auch die Regierungspolitik der Mächte. Privater Finanzsektor, Fiskus und Parlament werden im Zusammenhang gesehen. Die Überlegenheit der parlamentarisch verantwortlichen "kapitalistischen Demokratie" über die Militärmonarchien mit ihrem korporativen Kapitalismus und den politisch schwachen Parlamenten tritt deutlich zutage.
Die beiden widerstreitenden Wirklichkeiten - multilaterale Neuordnung unter amerikanischer Führung hier, nationale Machtpolitik ohne jede Form der Verflechtung dort - werden für das Jahr 1917 sichtbar gemacht (Kapitel 2 bis 5; der asiatischen Entwicklung in China und Japan gilt das klug eingeflochtene Kapitel 4). 1917 gab es die Chance eines grundsätzlichen demokratischen Neuanfangs sowohl in Russland als auch im Deutschen Reich, und in beiden Ländern war der Rekurs auf Wilsons Vision "peace without victory" handlungsleitend. Die Friedensformel des Petersburger Sowjets in der russischen Februarrevolution (April 1917) forderte Selbstbestimmung für alle Staaten unter Verzicht auf Annexionen und Kontributionen. Die Friedensresolution des Deutschen Reichstags vom Juli 1917 forderte eine internationale Organisation des Völkerrechts, in der die Idee des Völkerbunds unschwer zu erkennen ist. Zur selben Zeit wurden diese Ansätze zunichte gemacht von der Machtpolitik der betreffenden Länder - vom U-Boot-Krieg der Deutschen mit der Folge des amerikanischen Kriegseintritts, von der Beseitigung der demokratischen Ansätze in Russland durch Lenin und Trotzki in der Oktoberrevolution, von der Entscheidung der britischen Regierung unter Lloyd George, den Krieg gegen jeden Vorschlag von Friedensverhandlungen bis zum "knock-out blow" gegen das Kaiserreich zu führen, und vom gleichermaßen entschiedenen französischen Regierungschef Georges Clemenceau.
Tooze verfolgt die Diagnose zweier Wirklichkeiten durch die Krisenjahre der Nachkriegszeit (1919 bis 1923/24) und die kurze Spanne von 1924 bis 1929, als es so schien, dass liberaler Internationalismus und kapitalistische Demokratie zum Ordnungsmuster eines vertraglich durchwobenen Staatensystems werden könnten. Das Scheitern wurde durch den Rückzug der USA aus dem multilateralen System der Schuldenregelungen während der Großen Depression verursacht, weil dadurch nationales Eigeninteresse erneut freie Entfaltung ohne vertragliche Bindung erhielt. Brüning und Hitler stehen in dieser Perspektive nicht allzu weit voneinander entfernt.
Die Vision des Wilsonianismus war keineswegs selbstlos, sondern Resultat eines zeittypischen Nationalismus amerikanischer Spielart. Wilson sah die Überlegenheit der USA und machte sie zum Fundament seiner Vorstellung von einer neuen Weltordnung. Nationalismus und liberaler Internationalismus verschmolzen hier zu einem kohärenten Entwurf und wiesen voraus auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit vollem Recht fasst Tooze daher die Entwicklung nach 1945 immer wieder ins Auge.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert gab es den markanten amerikanischen Nationalismus, aber die Idee von der politischen Verpflichtung der Regierung in Washington, die eine solche Vision politisch und fiskalisch tragen musste, fand noch keine Befürworter. Es war die historische Leistung von Franklin D. Roosevelt nach den Jahren der Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, in der Ära des New Deal die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben. Liberaler Internationalismus und kapitalistische Demokratie wurden nach 1945 zur alleinigen Wirklichkeit in der westlichen Welt, und die USA bildeten den Angelpunkt der neuen multilateralen Ordnung. Deren Anfänge in den 1920er Jahren und das demokratische Potential der kurzen Zeit von 1917 bis 1931 herauspräpariert zu haben, ist das Verdienst dieses ausgezeichneten Buchs.
Anselm Doering-Manteuffel