Christoph Galle: Hodie nullus - cras maximus. Berühmtwerden und Berühmtsein im frühen 16. Jahrhundert am Beispiel des Erasmus von Rotterdam (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 158), Münster: Aschendorff 2013, 481 S., ISBN 978-3-402-11582-4, EUR 62,00
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Die Sammlung antiker Sprichwörter, die "Adagia", denen der Titel der vorliegenden Untersuchung "Hodie nullus, cras maximus" entnommen ist, erschien erstmals 1500. Sie blieb für mehrere Generationen ein europäisches Bildungsbuch. Durch die "Adagia", sein "Lob der Torheit" ("Moriae encomium") 1511, seine Ausgabe des Hieronymus 1516, und vor allem durch seine kommentierte Herausgabe des Neuen Testaments 1516 galt Erasmus um 1518 als die führende intellektuelle Autorität Europas.
Der Erfolg fiel ihm nicht in den Schoß. Als Vollwaise war er in das Kloster der Augustinerchorherren in Steyn bei Gouda eingetreten und Priester geworden. Er wurde Sekretär des Bischofs von Cambrai, der ihm das Studium in Paris ermöglichte. Den ersten publizistischen Erfolg erzielte Erasmus mit der satirischen Schrift "Lob der Torheit" (1511). Auf seiner Rheinreise, die Erasmus 1514 von den Niederlanden nach Straßburg und Basel führte, wurde er von den deutschen Humanisten begeistert als "Zierde Deutschlands" begrüßt.
Galles Studie ist keine Biografie im engeren Sinn. Angeregt wurde sie von Bernd Möllers Untersuchung "Das Berühmtwerden Luthers", die sich aber auf den Zeitraum von nur zwei Jahren vom Beginn des Ablassstreits bis zum Jahresende 1519 beschränkt. [1] Dagegen glaubt Galle für seine Untersuchung die ganze Biografie des Erasmus heranziehen zu müssen. Er greift intensiv auf dessen Korrespondenz zurück. [2] Dabei gelingt es ihm auch, die "Zeitenwende" mit dem Auftreten Luthers einzufangen. Das ist ein neuer Aspekt, da die Biografien Luthers und Erasmus' selten miteinander verglichen werden.
In einer umfangreichen Vorüberlegung untersucht der Autor zunächst die "Bedingungen für eine literarische Karriere im 16. Jahrhundert". Eine einschneidende Veränderung hatte die Struktur der Öffentlichkeit durch das neue Medium des Buchdrucks erfahren. Galle setzt die gelehrte Welt als "lateinfähige Teilöffentlichkeit" von der "volkssprachlichen Teilöffentlichkeit" des "gemeinen Mannes" ab. Zwar erreichte Erasmus in späteren Jahren durch Übersetzungen auch die Mittelschichten der Städte. Aber anders als beispielsweise Luther und Hutten veröffentlichte Erasmus selbst zeitlebens nur in der lateinischen Sprache.
Der Hauptteil der Analyse ist dem langen Prozesses des "Berühmtwerdens" gewidmet, von dem Galle das spätere "Berühmtsein" absetzt. Erst mit 28 Jahren konnte Erasmus das Studium in Paris aufnehmen. Er machte sich bekannt mit der Schrift der "Antibarbari", einem Plädoyer für die antike Bildung, die er aber erst 1520 veröffentlichen konnte. Auf Einladung eines englischen Schülers hielt er sich 1499/1500 in England auf. Er lernte Thomas Morus kennen, der ihn mit den führenden englischen Humanisten in London und Oxford bekannt machte. Erasmus war als Humanist erstmals von der vornehmen Welt aufgenommen und anerkannt worden. Nach seiner Rückkehr nach Paris erschien 1500 die erwähnte Erstausgabe der "Adagia". Auf der Suche nach Gönnern hielt er sich in Orléans, St. Omer, in der brabantischen Universitätsstadt Löwen und wieder in Paris auf. 1505 erhielt er eine zweite Einladung nach England. 1503 hatte er in Antwerpen das "Enchiridion militis christiani" veröffentlicht, eine Schrift, die für eine grundlegende Erneuerung der christlichen Lebensformen warb. Sie wurde erst durch ihren Nachdruck 1518 einer größeren Öffentlichkeit bekannt.
Seine englischen Kontakte ermöglichten Erasmus einen dreijährigen Italienaufenthalt, in Turin erwarb er sich seinen theologischen Doktortitel. Er hielt sich in Bologna, Padua, Venedig und zuletzt auch in Rom auf. Sein Italienbild unterschied sich deutlich von den verzerrten antirömischen Bildern, wie sie später Luther und Hutten entwickelten. Offenbar im Rückblick auf seine Italienerlebnisse verfasste Erasmus in London das "Lob der Torheit". Sein Programm einer Reform von Kirche und Gesellschaft drückte er in einer Satire aus, die ihn mehr als alle seine gelehrten Schriften berühmt machte, wie Galle nachweist. In jener Zeit erhielt er durch Vermittlung des Erzbischofs Warham ein festes Einkommen. 1517 wurde er durch päpstlichen Dispens von seinen Gelübden entbunden.
Seit seiner Rheinreise 1514 begann Erasmus auch in Deutschland berühmt zu werden. Seine wichtigsten Publikationen veröffentlichte er fortan in Basel. Er ließ sich wieder in Löwen nieder, wo er 1516 dem späteren Kaiser Karl V. seine "Institutio principis christiani" widmete. Im folgenden Jahr erschien seine "Querela pacis". Ein Jahr vor den Ablassthesen Luthers trug er sich mit Gedanken zu einer Reform der christlichen Gesellschaft Europas, die sich durch die "Künste des Frieden" auszeichnen sollte.
Mit dem Auftreten Luthers trat dann aber eine Gestalt in den Vordergrund, die den Kult um Erasmus in den deutschen Städten verdrängte. Galle spricht von dem "unvergleichlich rasanten Berühmtwerden Luthers", der bis dahin "als Theologieprofessor über die Stadtgrenzen Wittenbergs hinaus kaum bekannt war". Aber es ging nicht nur um das "Berühmtsein". Anstelle einer Reform der Gesellschaft, wie sie Erasmus und Morus propagierten, trat der Konfessionalismus der Reformation und der Gegenreformation.
Brieflich traten Luther und Erasmus erstmals 1519 in Kontakt. In den folgenden Jahren war Luther das alles beherrschende Thema in der Korrespondenz des Erasmus. Anfangs sah er Luther noch auf seinem eigenen Weg der Reform der Kirche durch die Rückkehr zu der Tradition der antiken christlichen Bildung. Als sich nach Worms die konfessionelle Lagerbildung zwischen Anhängern und Gegnern Luthers abzeichnete, ging Erasmus aber zunehmend auf Distanz zu ihm. Er zog sich 1521 in das ferne Basel zurück, wo er zu Wohlstand kam und in der Nähe der Offizin Froben ungestört seine Veröffentlichungen fortsetzen konnte. Zwar brachten Vertraute Luthers und Zwinglis wie Spalatin, Leo Jud und der Reformator Urbanus Rhegius jetzt Erasmus-Texte in deutschen Übersetzungen heraus. Aber das Auftreten Luthers bedeutete einen Bruch in seiner Karriere.
Anfang der 1520er Jahren wurden erstmals einige frühe Schriften des Erasmus veröffentlicht, darunter die "Schülergespräche", die er seinerzeit in Paris als Unterrichtsmaterial genutzt hatte. Erasmus war von dem Publikumserfolg der harmlosen Schrift überrascht. Er entwarf ganz neue Dialoge, die er unter dem Titel "Colloquia familiaria" herausbrachte. Die Kolloquien griffen Szenen aus dem Alltagsleben auf, in die Erasmus seine Kritik an Missständen in Kirche und Gesellschaft einwob. Alle paar Jahre brachte er neue Texte in erweiterten Auflagen heraus. Die von Galle nur kurz erwähnten Kolloquien waren sehr beliebt und wurden häufig in die Landesprachen übersetzt.
Sein leichter Umgang mit theologischen Streitfragen in den Kolloquien zog Erasmus den wachsenden Zorn militanter katholischer Theologen zu, die - ähnlich wie Luther - für seine Ironie und seine Neigung zur Satire wenig Verständnis hatten. 1527 wurden die "Colloquia" durch die Pariser Sorbonne förmlich verurteilt, allerdings wurde die Verurteilung selbst erst 1531 publiziert.
1524 gab Erasmus dem Drängen Papst Hadrians VI., gegen Luther zu schreiben, nach. Er wählte ein scheinbar abgelegenes akademisches Thema aus: den "freien Willen" ("De libero arbitrio"). Erasmus kam zu dem Ergebnis, dass Gott dem Menschen ein Moment an Freiheit gelassen habe. Luther antwortete ein Jahr später mit seiner Gegenschrift "De servo arbitrio" und schrieb darüber hinaus persönlich verletzend, ja zweifelte selbst den Glauben des Erasmus an. Der Bruch war endgültig.
Anders als in Deutschland, so hält Galle fest, war das Ansehen des Erasmus in der europäischen Öffentlichkeit ungebrochen, ja er fand in den 1520er Jahren neue Anhänger vor allen in Spanien und Polen. Häufig wird vergessen, dass sich die Öffentlichkeit Luthers im Wesentlichen auf den deutschsprachigen Raum beschränkte. Bei Erasmus dagegen war immer auch die europäische Dimension mit im Spiel.
Bis zuletzt kämpfte Erasmus gegen die Spaltung der Kirche. Sein letztes Werk "Ecclesiastes" (1535) war eine Anleitung zum Predigen für katholische und evangelische Prediger. 1533 brachte er die Schrift ""Über die Erhaltung der Einheit der Kirche" heraus. Als die Stadt Basel 1529 zur Reformation überging, ließ sich Erasmus in der nahen habsburgischen Stadt Freiburg nieder. Er starb im Juli 1536, nachdem er ein Jahr zuvor nach Basel zurückgekehrt war. Der Kardinalshut, den ihm Papst Paul III. angeboten hatte, wurde von Erasmus abgelehnt.
Schon seinen Zeitgenossen galt Erasmus als "homo pro se". Traditionell spielt er in der Geschichte der deutschen Reformation nur eine Nebenrolle. Daran hat sich bis in die jüngste Zeit nicht sehr viel geändert. Erasmus entsprach nicht dem lange Zeit vorherrschenden Forschungsansatz der "Konfessionalisierung". Gab es für ihn eine Position als "Reformer zwischen den Fronten"? [3] Diese eigentlich nahe liegende Frage wird selten gestellt. Galles Buch ist eine Ausnahme. Er erschließt Erasmus vor allem durch die intensive Analyse seiner Korrespondenz. Die zahlreichen Anmerkungen vermitteln einen Zugang zur neuesten Erasmus-Literatur, der Anhang enthält auf 32 Seiten ein detailliertes Verzeichnis der erasmischen Schriften. Gleichzeitig ist jeweils ein Verweis auf die entsprechende Erwähnung der einzelnen Werke in seinem Briefwechsel erhalten.
Galle setzt das "Berühmtwerden" des Erasmus faktisch mit seiner Rheinreise von 1514 an. Damit ordnet er sein "Berühmtwerden" und "Berühmtsein" zeitlich weniger Europa als dem deutschen Reich zu. Das ist überraschend und ungewöhnlich. So hat Galle versucht, Erasmus durch seinen Forschungsansatz in die deutsche Geschichte zurückzuholen. Dem letzten Kapitel des Buchs über das "Berühmtsein am Beispiel des Erasmus von Rotterdam" hätte eine abschließende Würdigung seines Lebenswerks hinzufügt werden können.
Anmerkungen:
[1] Bernd Moeller: Das Berühmtwerden Luthers, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), 65-92.
[2] P. S. Allen: Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 12 Bde., Oxford 1906-58 (Nachdruck: Oxford 1992).
[3] Roland Bainton: Erasmus. Reformer zwischen den Fronten, Göttingen 1972 (engl. 1969).
Wilhelm Ribhegge