Eckhard Bernstein: Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 430 S., ISBN 978-3-4122-2342-7, EUR 54,90
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"Eine Biographie Mutians gibt es nicht", konstatiert Eckhardt Bernstein in seinem Buch über den Humanisten Konrad Mutian (1470-1526). Seine Zeitgenossen nannten seinen Namen in einem Atemzug mit Erasmus und Reuchlin. In den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts stand er im Mittelpunkt eines Freundeskreises Erfurter Humanisten, der in der publizistischen Auseinandersetzung um den Reuchlinstreit, der erstmals in Deutschland eine literarische Öffentlichkeit entstehen ließ, Berühmtheit erlangte. Sie erwies sich als eine Vorstufe der Bewegung, die von Luther ausging und zur Reformation führte.
Conrad Muth, der den latinisierten Namen Conradus Mutianus Rufus annahm, stammte aus einer Patrizierfamilie im nordhessischen Homberg. Nach Besuch der Schule in Deventer, die auch Erasmus besuchte, studierte er von 1486 bis 1494 an der Universität Erfurt. Er erwarb dort den Baccalaureus sowie den Magister artium und übte auch eine Lehrtätigkeit aus.
Von 1495 bis 1502 verbrachte er sieben ausgedehnte Studienjahre in Italien, wobei er in Bologna die Humanisten Beroaldo und Codrus hörte und in Ferrara den Doktor der Rechte erwarb. Er scheint auch Rom, Venedig, Mailand, Mantua und Florenz besucht zu haben. Nach Bernstein legte er hier den "Grundstock seiner enormen Belesenheit in der lateinischen und griechischen Literatur". Hier wurde seine "Weltanschauung geformt, die einmal von der Begeisterung für die Antike, zum anderen auch von den neoplatonischen Gedanken eines Ficino und eines Pico della Mirandola getragen wurde". (57 f.)
Als Mutian 1502 im Alter von 32 Jahren nach Deutschland zurückkehrte, ließ er sich nicht in der Universitätsstadt Erfurt nieder, sondern in dem 26 Kilometer davon entfernten Gotha, wo er an dem dortigen Marienstift als Augustinerchorherr ein Kanonikat antrat, eine gut dotierte Pfründe. Der Zölibatär bewohnte ein eigenes Haus, dem er den Namen "Beata Tranquillitas" gab und in dem er seine Gäste empfing. Für seine Versorgung waren Diener zuständig. In dem oberen Geschoss befand sich die reichhaltige Bibliothek. Mutian lebte in einem angespannten Verhältnis zu seinen Mitkanonikern, deren Unbildung er verachtete. Gotha verließ er selten, und er lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1526.
Von Gotha aus gelang es ihm, unter den mit der Universität Erfurt verbundenen Humanisten - Literaten, Juristen, Mediziner und Theologen - den bereits beschriebenen Freundeskreis aufzubauen, dessen führender Kopf er war. Zu dem Kreis zählte der Dichter Eobanus Hessus, der im Herbst 1518 eine "Pilgerreise" zu Erasmus nach Löwen unternahm, um Briefe des Erfurter Kreises zu überbringen, ferner Georg Spalatin, der spätere Sekretär Kurfürst Friedrichs des Weisen und enger Vertrauter Luthers, Peter und Heinrich Eberbach, der Jurist Herebord von der Marthen, Herman Trebelius, der Dichter Euricius Cordus und Crotus Rubeanus, einer der Verfasser der "Dunkelmännerbriefe". Über Rubeanus und Hessus kam der Kontakt mit Ulrich von Hutten zustande. Später kamen noch Johannes Lange, Justus Jonas, Johann Draco und der junge Joachim Camerarius hinzu. Das wichtigste Kommunikationsmittel dieses Kreises war das Netzwerk ihrer Korrespondenz, in dem sie ihre Meinungen austauschten. Der große Reiz dieses Buchs besteht darin, dass Bernstein ausführlich zitiert, wobei er die lateinischen Zitate vollständig in den Fußnoten wiedergibt. Wer kennt schon die lateinisch sprechenden deutschen Humanisten im Original?
In zehn ausführlichen Kurzbiographien wird der Mutian-Kreis portraitiert. Sie liefern aufschlussreiche Hinweise über Soziologie und die Herkunft der Mitglieder. Mutian förderte seine Freunde und ihr Ansehen, veröffentlichte aber selbst nie ein Buch. Heinrich Urban, sein engster Vertrauter, ein Zisterziensersmönch aus dem nahe gelegenen Kloster Georgenthal, hat die meisten der noch erhaltenen Briefe Mutians aufbewahrt und diese der Nachwelt überlieferte. [1] An ihnen lässt sich nachverfolgen, wie Mutian im Laufe der Jahre seinen eigenen Stil entwickelte, "der sich durch Witz, Ironie, Urbanität und eine ungekünstelte Sprache auszeichnete". (265)
An einigen Stellen der Briefe warnt Mutian davor, den Glauben der einfachen Menschen zu schwächen. "Ohne [diese Mysterien] würden weder das Reich noch die Kirche des Papstes lange bestehen noch würden wir lange unsere Privilegien behalten. Alles würde in das alte Chaos versinken. Nicht Gesetze und Moral, sondern Gewalt und Willkür würden herrschen." (329) Möglichweise deutet sich schon sein späterer kritischer Ansatz zur Reformation an.
Das Buch gliedert sich in 13 Kapitel. Eigene Kapitel sind der Reuchlin-Affäre, Mutians Einstellung zu "Kirche, Klerus und Gott" und zu seiner Haltung "im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation" gewidmet. Für die Erfurter Humanisten galt Erasmus als eine Kultfigur. Sie engagierten sich in dem Konflikt zwischen Humanisten ("Poeten") und Theologen ("Scholastikern"). Diese Auseinandersetzung erreichte einen Höhepunkt in der Reuchlin-Affäre.
Mutian und seine humanistischen Freunde setzten sich leidenschaftlich für Reuchlin und gegen dessen Gegner, die Kölner Theologen, ein. Für sie war es ein Kampf der Gebildeten, die die "Sprachen" (d. h. Latein, Griechisch und Hebräisch) verteidigten gegen die "Barbaren", die Ungebildeten, die die Sprachen verachten und die Bücher verbrannten. 1515 erschien anonym der erste Band der "Dunkelmännerbriefe ("Epistolae obscurorum virorum"), als dessen Verfasser Crotus Rubeanus gilt. Der zweite Band, der Ulrich von Hutten zugeschrieben wird, folgte im Jahre 1517, gleichfalls anonym. Bei dem ersten Band handelte es sich um 41 fiktive Briefe, die von Anhängern der Kölner Theologen und Gegnern Reuchlins an Ortwin Gratius nach Köln gerichtet waren. Die Absender kamen aus ganz Deutschland, vor allem aus den Universitätsstädten. Die fiktiven Namen der Briefschreiber wie Langschneyderius, Pellifex, Plumilegus unterstrichen den Charakter der Farce. Die Briefe waren im holprigen "Küchenlatein" geschrieben, um die Briefscheiber der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Gegner Reuchlins, also die Theologen und Mönche, wurden durch die Satire, allerdings in rüder Manier als ungebildete Saufbrüder entlarvt, die der Hurerei verfallen waren.
Der zweite Band hob den Kampf der Humanisten gegen die scholastischen Theologen auf eine andere Ebene. Er erschien, nachdem der kirchliche Prozess gegen Reuchlin sich inzwischen nach Rom verlagert hatte. Die fiktiven Absender kamen nicht mehr nur aus Deutschland, sondern häufig aus Italien, wo sich Hutten, der Autor, damals aufhielt, und aus Rom und der Kurie. Dadurch erhielt der Band eine antirömische Spitze. Kaum noch durch die Satire verdeckt offenbart er, dass der Erfurter Kreis um Mutian ein Zentrum der Angriffe auf die Kölner Theologen war. So heißt es in dessen 59. Brief: "Ein Erfurter Student, den ich kenne, hat gesagt, Konrad Mutianus sei der Schlechteste unter denen, die es mit Reuchlin halten, und ein solcher Feind der Theologen, dass er es gar nicht hören könne, wenn man die Kölner Theologen nennt. Auch sagte dieser Student, er habe wohl zwanzig Briefe von ihm gesehen, worin er gewisse Freunde bitte, Reuchlinisten zu werden." (297)
Durch das Auftreten Luthers und durch die Reformation trat die Reuchlin-Affäre völlig in den Hintergrund. Reuchlin starb 1522. Erasmus widmete ihm in seinen Kolloquien den Nachruf "Apotheosis Capnionis" (Reuchlins Himmelfahrt). Sowohl Reuchlin wie Mutian lehnten Luther entschieden ab. Die meisten Mitglieder des Mutian-Kreises wie Spalatin, Jonas und Lange wurden dagegen zu Anhängern Luthers. In Erfurt ersetzte der Lutherkult den Erasmuskult. Jonas, der 1519 Rektor der Universität Erfurt wurde, hatte im Frühjahr den ersten Brief Luthers an Erasmus nach Löwen überbracht. Mit Reuchlin und Mutian distanzierten sich auch die Erasmianer Pirckheimer in Nürnberg und Zasius in Freiburg von Luther und schließlich Erasmus selbst. Nach dem Bruch zwischen Erasmus und Luther 1524 galt es für Lutheraner als Verrat, Erasmianer zu sein. (357) Der Freundeskreis um Mutian zerfiel. Er selbst hatte vor den rebellischen Freunden Luthers gewarnt. Die Auswirkungen des Bauernkriegs in Thüringen schienen ihm Recht zu geben. Das nahe gelegene Kloster Georgenthal wurde 1525 fast völlig zerstört. Mutian verlor die Einkünfte aus seinem Kanonikat und starb 1526 verarmt.
Das Buch wende sich nicht, schreibt Bernstein, an den sehr kleinen Kreis von Forschern, die bereits mit Mutian vertraut sind, sondern an ein größeres interessiertes Fachpublikum. Es gelingt ihm, durch ein minutiöses Detailstudium ein Panorama aufzubauen, das bisher unbekannte Einsichten in das Verhältnis von Humanismus und Reformation vermittelt.
Anmerkung:
[1] Bernstein benutzt die folgenden Editionen von Mutians Briefwechsel: Carl Krause: Der Briefwechsel des Mutianus Rufus, Kassel 1885 (LXVIII u. 700 S.); Karl Gillert: Der Briefwechsel des Conradus Mutianus, Halle 1890, 2 Bde. (LXIV, 486 u. 372 S.).
Wilhelm Ribhegge