Wolfgang Kraushaar: "Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?". München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Reinbek: Rowohlt Verlag 2013, 880 S., ISBN 978-3-498-03411-5, EUR 34,95
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Der Hamburger Politologe Wolfgang Kraushaar hat mit dem hier zu besprechenden Werk einmal mehr große Aufmerksamkeit erregt. Kraushaars Verdienst ist es, eine vergleichsweise in Vergessenheit geratene Anschlagswelle aufgearbeitet zu haben: Im Februar 1970 ereigneten sich innerhalb von elf Tagen zwei Bombenanschläge gegen einen Austrian Airlines (AUA)- und einen Swiss-Air-Flug sowie ein Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim. Außerdem wurden zwei Flugzeugentführungen versucht. (16) Dabei kamen insgesamt 55 Menschen ums Leben, vor allem Israelis und deutsche Juden. Geografischer Schwerpunkt der Terroraktionen war München, wo damals die Vorbereitungen für die Austragung der Olympischen Spiele von 1972 voll angelaufen waren. Fokussiert auf diese Ereigniskette geht es Kraushaar darum, nachzuweisen, dass die für die Terrorserie verantwortlichen palästinensischen Organisationen auch von westdeutschen Linksextremisten unterstützt wurden. Das wichtigste Beispiel für Kraushaar ist der erwähnte verheerende Brandanschlag auf das jüdische Altenheim in der Münchner Reichenbachstraße am 13. Februar 1970, der sieben Todesopfer forderte. Als Täter wurden lange Zeit Rechtsextremisten vermutet; wie Kraushaar belegt, gab es jedoch schon im Frühstadium der Ermittlungen konkrete Spuren in linke Münchner Subkulturen.
"Der gemeinsame Nenner der Terrorwelle", so Kraushaar, "war antiisraelisch bzw. antijüdisch und insofern antisemitisch". (17) Der Politologe hat schon in seinem vorangegangenen Buch "Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" festgestellt, dass Antisemitismus für den westdeutschen Linksterrorismus "nichts weniger als ein Konstituens gewesen ist, ein Konstituens, das sich - wie die Geschichte der RAF beweist - als kontinuitätsstiftend erwiesen hat". [1] Gerade die Anfänge des "Projekts Stadtguerilla" in den Jahren 1969/70 waren von der Stilisierung Palästinas zum "neuen Vietnam", engen Zusammenhängen zwischen Antizionismus und Antisemitismus sowie dem Wunsch nach einer Tilgung des "Judenkomplexes", der Schuld für den Holocaust, gekennzeichnet. 1969 hatte der Schlüsselakteur Dieter Kunzelmann im Rahmen einer "Palästinareise" erste direkte Kontakte zu arabischen Guerillas geknüpft und in einem "Brief aus Amman" gefordert, "unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit AL FATAH". (309) In den 1970er Jahren kam es zu dann zu palästinensischer Ausbildungshilfe und Waffenlieferungen für deutsche Terrorgruppen, während diese im Gegenzug "Auftragsarbeiten" durchführten. Den symbolischen Höhepunkt fand diese Kooperation in der Selektion jüdischer Geiseln durch zwei Mitglieder der Revolutionären Zellen auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda anlässlich der Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France im Juli 1976.
2005 konnte Kraushaar mit dem Ex-Kommunarden Albert Fichter einen "Kronzeugen" dafür präsentieren, dass die erste Aktion des "bewaffneten Kampfes", der Anschlag gegen das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin (1969), antisemitisch motiviert war. Dagegen fällt die Unterfütterung der Hauptthese des aktuellen Buchs wesentlich dürftiger aus. Zwar gelingt Kraushaar eine minutiöse Rekonstruktion der Anschlagsserie, aber der Nachweis einer aktiven und abgestimmten Kollaboration zwischen Palästinensern und Westdeutschen bleibt hauptsächlich im Spekulativen. Wenn zum Beispiel die Kunzelmann-Vertraute Ina Siepmann, laut Kraushaar das Relais zwischen Jordanien und der Bundesrepublik, Ende 1969 an Kunzelmann schrieb: "[...] wo sind die Brandst. geblieben?", dann liest Kraushaar "Brandstiftungen" heraus - als ob Siepmann auf die baldige Durchführung von mit den Palästinensern verabredeten Aktionen drängen wollte. (687) Tatsächlich ist es plausibler, dass sich die Frage auf den Verbleib der damals untergetauchten Kaufhausbrandstifter Andreas Baader und Gudrun Ensslin bezog.
Auch ob die Attentate von 1970 überhaupt ein konzertiertes Unternehmen eigentlich miteinander konkurrierender palästinensischer Gruppen waren, geht aus den Quellen nicht zweifelsfrei hervor. So heißt es vielmehr im Schlussbericht zu den Paketbombenanschlägen gegen den AUA- und den Swiss-Air-Flug: "Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Beschuldigten in München Kontakt zu Verbindungsleuten aufgenommen haben oder mit dem von AOLP-Angehörigen inszenierten Überfall auf Besatzung und Passagiere einer El-Al-Maschine in München-Riem [2] in Zusammenhang stehen." [3]
Ausführlich widmet sich Kraushaar auch der brisanten Frage nach Konsequenzen der Anschläge - offenbar wurden gerade hinsichtlich der Sicherheitsplanungen für die Olympischen Spiele in München keine entsprechenden Lehren gezogen. Der mangelnde Schutz für das Quartier des israelischen Sportlerteams und die nachfolgende Geiselnahme durch die palästinensische Terrororganisation "Schwarzer September" erscheint vor dem Hintergrund der Ereignisse zwei Jahre zuvor umso unverständlicher. Die Sicherheitserklärung, die Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bei der Trauerfeier für die Opfer des Brandes in der Reichenbachstraße abgegeben hatte, habe sich als "wertlos" erwiesen: "Wieder einmal hatten Juden isoliert und gefangen genommen werden können." (567)
Hart ins Gericht geht Kraushaar mit der deutschen Nahostpolitik, die auf die Anschläge folgte, wobei er in diese Kritik auch den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky mit einbezieht. Letzterer zeichnete den "special envoy" von PLO-Führer Jassir Arafat, Issam Sartawi, 1979 mit einem Menschenrechtspreis aus, obwohl dieser neun Jahre zuvor einen der Anschläge in München befohlen hatte. Sartawi hatte sich in der Zwischenzeit vom Terrorismus abgewandt und vertrat eine politische Lösung des Nahostkonflikts. Dafür wurde er 1983 von einem Killer der mit der PLO verfeindeten Abu-Nidal-Organisation ermordet. Für Kraushaar stellt die Auszeichnung Sartawis dennoch "die Spitze einer fragwürdigen Politik dar, mit der von deutscher und österreichischer Seite die Weichen zu einer Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis gestellt werden sollten". (690) Auch dass die sechs Attentäter, die 1970 festgenommen wurden, binnen Monaten abgeschoben wurden, ist für Kraushaar ein Element einer "regelrechten Appeasementpolitik", mit der versucht worden sei, "einer Konfrontation mit dem palästinensischen Terrorismus aus dem Weg zu gehen". (691) Aus heutiger Sicht mag diese Kritik ihre Berechtigung haben; sie verstellt allerdings den Blick auf die beträchtliche Heraus- und Überforderung, die der internationale Terrorismus für die westlichen Staaten Anfang der 1970er Jahre darstellte. Der Mangel an Spezialkräften, Defizite bei der geheimdienstlichen Aufklärung, aber auch Rücksichtnahme auf die eigene Öffentlichkeit sowie außenpolitische Interessen ließen oft nur eine pragmatische Herangehensweise zu.
Unter dem Strich ist Kraushaars Buch eine von detektivischem Spürsinn getriebene Recherche, die den Kenntnisstand über die "Wurzeln" des deutschen Terrorismus erweitert. Hinsichtlich der daraus gezogenen Schlüsse kann die Studie aber nicht vollends überzeugen. Zweifellos stellt das Buch eine wichtige Ergänzung zur historischen Aufarbeitung des Terrorismus in der Bundesrepublik dar - vor allem was die Frühphase sowie die Querverbindungen zwischen Linksextremisten und palästinensischen Gruppen angeht. Der Nachweis einer tatsächlich erfolgten "Arbeitsteilung zwischen bundesdeutschen und palästinensischen Terroristen" (687) im Rahmen der Münchner Anschlagsserie ist Kraushaar allerdings nicht gelungen.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. Hamburg 2005, 294.
[2] Angehörige der Aktionsfront für die Befreiung Palästinas (AOLP) hatten am 10. Februar 1970 im Transitbereich des Flughafens München-Riem Passagiere und Besatzung eines El-Al-Flugs angegriffen.
[3] Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, BMI, E-10.010/70/III., Ordner III., Schlussbericht Sicherungsgruppe Bonn-Bad Godesberg vom 14. Januar 1971, 10.
Thomas Riegler