Stephan A. Glienke (Bearb.): Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2012, 210 S., ohne ISBN
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Verein Aktives Museum (Hg.): Vor die Tür gesetzt. Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945, Berlin: Verein Aktives Museum 2006
Am 28. Oktober 2008 forderte die Fraktion der Partei Die Linke im Niedersächsischen Landtag das Parlament auf, eine Kommission aus Vertretern aller Fraktionen zu bilden, um die nationalsozialistische Vergangenheit früherer Landtagsabgeordneter zu dokumentieren. Sie berief sich auf eine Studie, der zufolge mindestens 71 ehemalige Abgeordnete Mitglied der NSDAP gewesen seien. Der gesamte Landtag machte sich dieses Anliegen zu eigen und beauftragte schließlich die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen mit der Durchführung des Projekts. Nach etwas mehr als zwei Jahren waren die Arbeiten beendet; der nun vorliegende Abschlussbericht ist das wissenschaftliche Ergebnis.
In seinen Vorbemerkungen betont der Bearbeiter, Stephan Alexander Glienke, dass der Untersuchung eine "Pilotfunktion" (13) zukomme, weil sie die erste ihrer Art für ein deutsches Parlament sei. Das ist richtig, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass ähnlich gelagerte Untersuchungen, wenn auch mit Blick auf die Opfer der NS-Diktatur, bereits existieren. Das gilt vor allem für die Berliner Stadtverordnetenversammlung [1] und den Bayerischen Landtag [2]. In der hier zu besprechenden Publikation gerieten 755 Personen in den Fokus, und zwar die bis einschließlich 1928 geborenen "Abgeordneten der Vorgängerparlamente des Niedersächsischen Landtags auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen in den Jahren 1945/46 und des seit 1947 bestehenden Niedersächsischen Landtags" (15). Eine derart große Gruppe in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit auf einer breiten Basis von Quellen - deren Potential und Grenzen eingehend vorgestellt werden - zu überprüfen, bedeutet eine enorme Arbeit, die in hohem Maße Anerkennung verdient.
Wie nicht anders zu erwarten, konzentriert sich der Verfasser auf die Frage nach der Mitgliedschaft in der NSDAP sowie in Gliederungen der Partei und angeschlossenen Verbänden, auf "Funktionsträger in Partei, Staat und Wehrmacht" sowie schließlich Denunzianten. Es ist lobenswert, dass der Autor nie in Schwarz-Weiß-Malerei verfällt und nach den unterschiedlichen Gründen für einen NSDAP-Beitritt fragt. Dass die Mitgliedschaft in der Partei rein nominellen Charakter haben oder eine weit reichende Übereinstimmung mit der Weltanschauung der Nationalsozialisten aufzeigen konnte, versteht sich eigentlich von selbst, und doch ist es aus didaktischen Gründen gut, dass diese Bandbreite exemplarisch demonstriert wird. Das gehört zu den herausragenden Merkmalen der Publikation.
Das Ergebnis im Falle der NSDAP-Mitgliedschaften vermag allerdings wenig zu überraschen: Bei 204 der 755 untersuchten Personen war eine solche nachweisbar; das entspricht einem Anteil von 27 Prozent. In den fünfziger Jahren war die Zahl der im Landtag vertretenen ehemaligen NSDAP-Mitglieder am höchsten, dann nahm sie kontinuierlich ab. Wie die Prozentzahl genau zu bewerten ist, muss offen bleiben, weil Vergleichszahlen fehlen. Allerdings sollte nun nicht jedes Landesparlament einen ähnlichen Weg wie in Niedersachsen einschlagen, denn so beträchtlich ist der Erkenntnisgewinn auch wieder nicht. Fast siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erbringt die Suche nach Nationalsozialisten in den eigenen Reihen keinen so großen Beitrag zur weiteren Stabilisierung unserer Demokratie wie die Aufarbeitung von Opferschicksalen oder die Auseinandersetzung mit den Gründen für die Entstehung der Diktatur.
Wiederholt wird in dem Bericht darauf hingewiesen, dass aus zeitlichen Gründen eine nähere Erforschung bisweilen nicht möglich gewesen sei. So nachvollziehbar dieses Argument ist, so groß ist freilich auch das damit verbundene Manko. Das wird etwa im Falle der Tätigkeit von Werner Blunck als Militärverwaltungsrat deutlich, für den Glienke - ohne weitere Fragen zu stellen - schlicht auf Bestände im Bundesarchiv aufmerksam macht (74 f.). Vor allem stellt sich das Problem, wenn es zu Ungleichgewichtigkeiten in der Bewertung kommt. Unmittelbar nach dem Fall Blunck nimmt sich der Verfasser des späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf an. Hier wird ohne zu zögern und offenbar ohne Abstützung auf Aktenmaterial das Urteil vertreten, Kopf sei "an der Enteignung und Aussiedlung der polnischen Bevölkerung beteiligt" gewesen (75). Zugleich wird aber darauf verwiesen, er sei dienstverpflichtet gewesen. Kopfs Rolle als "Angestellter" (172) der Haupttreuhandstelle Ost hätte sehr viel eingehender durchleuchtet werden müssen. Nur so hätte man seine Wirkungsmöglichkeiten und Handlungen von 1939 bis 1943 nachvollziehen können, als er sich zur Bewirtschaftung eines Ritterguts zurückzog. Wie ist dieser Bruch in seiner Biographie zu erklären? Wenn Kopf eine Beteiligung an Verbrechen vorgeworfen wird - müsste der Landtag dann nicht Konsequenzen ziehen und seinen Sitz verlegen? Seine Anschrift lautet schließlich: Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1, 30159 Hannover.
Als problematisch erweist sich der Abschlussbericht auch im letzten Teil, nämlich bei den Kurzbiographien ausgewählter Abgeordneter. Hier wird darauf verwiesen, dass nur diejenigen ausgewählt worden seien, bei denen "Hinweise auf ein über die reine Mitgliedschaft hinausreichendes Engagement im Nationalsozialismus" vorlägen. Es würden sich alle Personen finden, "die mehr als nur ein einfaches Mitglied waren, sowie Personen, die zu irgendeinem Zeitpunkt eine Vollzeittätigkeit in der NSDAP oder einer NS-Gliederung ausgeübt haben oder aber hauptberuflich in den Reichs- oder Landesbehörden tätig waren" (113). Auch alle Angehörigen der SS und der Waffen-SS seien aufgenommen worden. Es ist nicht verständlich, weshalb der Öffentlichkeit ein Teil der Forschungsergebnisse vorenthalten wird.
Besonders unverständlich erscheint die Aufnahme von Hans-Christoph Seebohm in den Kreis derjenigen, die ein besonders Engagement zugunsten der nationalsozialistischen Ideologie an den Tag legten. Aus der Sicht des Rezensenten trifft keines der genannten Kriterien auf den früheren Bundesverkehrsminister (1949 bis 1966) zu. Sollte es anders sein, hätte dies einer ausführlichen Erläuterung bedurft. Angegeben wird Seebohms Mitgliedschaft in der DAF und im NS-Bund Deutscher Technik (jeweils 1934 bis 1945). Sein Entnazifizierungsverfahren endete mit der Einstufung als "nicht betroffen". Gründet sich die mit der Aufnahme in die Kurzbiographien einhergehende Verurteilung Seebohms auf seine Tätigkeit als Geschäftsführer bzw. Aufsichtsratsvorsitzender mehrerer Bergbau-Unternehmen während des Zweiten Weltkriegs? Selbst wenn man zu Seebohms politischer Tätigkeit nach 1945, seinen unbeherrschten Auftritten und seinem übereifrigen, teilweise verletzenden Einsatz für die vertriebenen Sudetendeutschen kritisch steht - die Richtschnur kann das hier nicht sein. Anstatt ihn an den Pranger zu stellen, wäre es beispielsweise besser gewesen, den spannenden Fall des Herbert Kriedemann als V-Mann bei der Sopade in Prag (78 f.) auch im biographischen Teil noch einmal aufzugreifen.
Unter diesen Umständen kann das Gesamturteil nicht uneingeschränkt positiv ausfallen. Einer großen Arbeitsleistung, deren wissenschaftlicher Wert insgesamt unzweifelhaft ist, stehen einige Desiderata und Unausgewogenheiten gegenüber, die nur zum Teil auf äußere Umstände zurückzuführen sind. Es liegt eine beachtenswerte Publikation vor, die aber recht kritisch gelesen werden muss.
Anmerkungen:
[1] Verein Aktives Museum (Hg.): Vor die Tür gesetzt. Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945, Berlin 2006.
[2] Für das Projekt "Opfer und Verfolgte des NS-Regimes aus bayerischen Parlamenten" vgl. http://www.bayern.landtag.de/opfer_doku/web_gedenk_v2/.
Tim Szatkowski