Şevket Küçükhüseyin: Selbst- und Fremdwahrnehmung im Prozess kultureller Transformation. Anatolische Quellen über Muslime, Christen und Türken (13-15. Jahrhundert) (= Nr. 63), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2011, IX + 488 S., ISBN 978-3-7001-7070-9, EUR 64,00
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Als sich der Historiker Lucien Febvre vor etwa einem Jahrhundert an die Arbeit machte, die Geschichtstheorie aus den Fesseln des Positivismus zu befreien, konnte er noch nicht wissen, dass die von ihm aus der Taufe gehobene Mentalitätsgeschichte Konzepte und Fragestellungen beinhaltete, die heute noch für die historische Forschung fruchtbar gemacht werden können. Dies trotz der offenkundigen Tatsache, dass die mentalitätsgeschichtliche Perspektive ihrer Natur gemäß - dem Blickpunkt der geistigen Haltung historischer Akteure - Konplexitäten in sich birgt und Forschungsansprüche erhebt, die einzulösen nur um den Preis härtester Arbeit und konzentriertestem Quellenstudium vonseiten des Historikers zu bewerkstelligen ist.
Diese Herausforderung hat Şevket Küçükhüseyin in seiner Studie "Selbst- und Fremdwahrnehmung im Prozess kultureller Transformation. Anatolische Quellen über Muslime, Christen und Türken (13.-15. Jahrhundert)" angenommen und in meisterhafter Weise bewältigt. Es ist ihm bewusst, dass die von ihm gewählten raum-zeitlichen Koordinaten bereits "nationalistisch" inspirierte Streitpunkte unter den Wissenschaftlern hervorrufen haben, je nachdem ob es sich um Byzantinisten, Turkologen oder Mediävisten gehandelt hat, welche oft einen fachspezifisch verengten Blick an den Tag gelegt haben (3f.). Küçükhüseyin versucht diese Einzelperspektiven in der Zusammenschau zu einem konzisen Gesamtbild zusammenzufügen. Seine Arbeit beschäftigt sich mit den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in narrativen muslimischen Texten des 13.-15. Jahrhunderts, in denen die hybriden lebensweltlichen Verhältnisse innerhalb des multikulturellen Kontextes Kleinasien reflektiert werden. Die Texte wurden somit weniger als Quellen zur Ereignisgeschichte gelesen, sondern im Hinblick auf die inhärenten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Eigenen und Fremden untersucht. Hierbei ging er insbesondere der Frage nach, inwieweit die dabei vorgefundenen Konzepte von Identität und Alterität sowie die ermittelten Mentalitäten und Bewusstseinslagen den Transformationsprozeß reflektieren bzw. diesen Prozeß mitgestaltet haben.
Textuell handelt es sich um die beiden persischsprachigen Historiographien des Ibn Bībī und des Aqsarāʾī, dem osmanischen Volksroman Baṭṭālnāme sowie der persischen Hagiographiensammlung des Aflākī.[1] Diese Texte sind der islamwissenschaftlichen Forschung durchaus bekannt. Küçükhüseyins Verdienst liegt jedoch nicht nur in der kritischen Würdigung der jeweils zur Verfügung stehenden umfangreichen Fachliteratur, sondern auch und insbesondere in der neuen Lektüre der Quellen, in ihrem kontrastreichen Vergleich und schließlich ihrer mentalitäts-geschichtlichen Analyse.
Küçükhüseyin untersucht in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung dreier großer Gruppen: 1. Die persophonen sunnitischen Stadtbewohner 2. Christen sowie 3. Turkmenen. Die Frage, inwiefern die Texte als "repräsentative Stellungnahmen" (8) angesehen werden können, beantwortet Küçükhüseyin, indem er sich der Untersuchung nach den "Bildern in den Köpfen" widmet, die in den Texten zum Ausdruck kommen. Es geht ihm dabei auch um Normen, Werte und Vorannahmen, auf denen soziales Handeln beruht. Mentalität sei dementsprechend ein zutiefst sozialer Sachverhalt. Allerdings räumt er ein, dass historische Gesellschaften umso homogener erscheinen, je weniger Informationen man über sie besitzt. Nichtsdestotrotz extrahiert Küçükhüseyin aus seinen Texten, die ja unterschiedlichen Genres entstammen, das nötige Wissen. Hagiographien haben für ihn - dem Hallenser Islam-Historiker Jürgen Paul folgend - "Gebrauchsanweisungscharakter" als "Vermittlung von Wissen für den spirituellen Weg" (16). Auch betont er, dass hagiographische Texte nicht für die Nachwelt, sondern für Zeitgenossen verfasst wurden, u. a. auch damit sie wissen, wie die Wirklichkeit geordnet werden soll (24). Gleiches gelte ebenso für den Volksroman und die Historiographien, die in einer Weise verfasst sein müssen, dass sich die Adressaten in ihnen wiederfinden können. In bezug auf die Mentalitäten der erwähnten drei Gruppen analysiert er die Gesamtheit der eingelebten, routinisierten, über Generationen hinweg stabilen Glaubensüberzeugungen und Sinngewißheiten, welche die Grundlage kollektiven Handelns bilden. Bei der Vorstellung der Quellen sind Hagiographien und epische Volksromane in einem interessanteren Kontext verortet als Historiographien, vermutlich aus dem Grunde, da die historiographische Forschung einen weitaus größeren Umfang besitzt, so dass Küçükhüseyin auf das bereits erarbeitete zurückgreifen muß und so in einem geringeren Umfang diese Textgattung mit seinen Fragestellungen kompatibilisieren kann. Da der Hauptgegenstand seines Volksromans - dem Baṭṭālnāme - den Glaubenskampf gegen das Christentum auf anatolischem Boden behandelt, eignet sich dieser Text in besonderer Weise, der Frage nach den Mentalitäten nachzugehen. Der Volksroman erfülle in gleicher Weise unabhängig von seinem fiktiven Hintergrund eine erzieherische Funktion, auch indem von Anatolien das Bild eines "nahezu rein vom Glaubenkampf gekennzeichneten Kosmos" wiedergegeben werde (67). Was das dritte Genre, die Hagiographie angeht, so konstatiert Küçükhüseyin im Bereich der Islamforschung von Wissenschaftlern wie Paul abgesehen ein Defizit, das es in Zukunft zu überwinden gelte. Der Text stelle den Heiligen als "ethischen Virtuosen" vor, welcher gleichzeitig "eine binnenintegrative Funktion" (96) für die Wir-Gruppe des mystischen Ordens erfülle. Der Vorzüglichkeitsanspruch, der durch die Hagiographie propagiert wird, beinhalte eine Kontinuitäts- und Legitimationsstiftung für den besagten Orden. Wenn mitbedacht wird, welch immensen Einfluß die Orden am städtischen Leben besaßen, wird die Bedeutung der Hagiographie in bezug auf der ersten untersuchten Gruppe klar. Hagiographien beleuchten Aspekte des sozialen Lebens, welche von anderen Textgattungen wenn überhaupt nur unzureichend thematisiert werden (105). Es ist also zutreffend, wenn Küçükhüseyin feststellt, dass insbesondere hagiographische Texte uns heute einen Einblick in die mentale Haltung dieser Gruppen im jeweiligen Zeitraum ihrer Entstehung" (106) liefern. Die Frage nach der Historizität ist hier gar nicht zu stellen, da hier in jedem Fall ein Bild geliefert wird, das von Seiten der Wir-Gruppe als ereignbar angesehen wird.
Im Hauptteil der Arbeit setzt sich Küçükhüseyin eingehend mit seinen vier Texten auseinander. Er durchleuchtet die Texte Ibn Bībīs, Aqsarāʾīs, das Baṭṭālnāme sowie Aflākīs Manāqib al-ʿārifīn, erstellt komplexe Bilder von den Verfassern, den Entstehungskontext der Werke und behandelt die Frage nach Entstehungsbedingungen, Wert sowie Programmatik der Texte. So befand sich z. B. Ibn Bībī als Kanzleibeamter in einer Tradition eines überfrachteten Stils innerhalb der persischen Historiographie, die er so weit überspannte, dass er erst durch Epitome angemessen verstehbar gemacht werden musste. Bei ihm fehlt das didaktische Moment - ein oft anzutreffender Aspekt innerhalb dieser Gattung auch bei Aqsarāʾī. Da die vier Quellen nicht den gleichen Adressaten aufweisen und deshalb auch aus einem unterschiedlichen Kontext heraus entstanden sind, gelingt es Küçükhüseyin, einen ungefähren Querschnitt der anatolischen Bevölkerung zu erstellen.
Nach Bearbeitung der Quellen fasst Küçükhüseyin seine Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: Der Entstehungskontext sämtlicher Texte ist im städtisch-sunnitischen Milieu zu verorten, wobei nur der Volksroman Baṭṭālnāme nicht dem persophonen Zusammenhang entstammt. Während bei der Hagiographie Aflākīs ein über die direkten Belange des Mawlawiyya-Ordens hinausgehendes historisches Interesse nicht vorausgesetzt werden kann, wird im Baṭṭālnāme "die statische Konfrontation zwischen Islam und Unglauben" (352) mit all ihren Stereotypen innerhalb eines "flachen, zweidimensionalen Weltentwurfs" (ebd.) präsentiert, welcher den hochkomplexen historischen Umschichtungsprozessen nicht gerecht werden kann. Dies gilt auch für die historiographischen Texte Ibn Bībīs und Asqarāʾīs, in denen die Islamizität Rūms gar nicht hinterfragt wird. Das Baṭṭālnāme sowie Aflākī präsentieren Rūm zudem als ein eigenes Zentrum innerhalb der islamischen Ökumene, so dass für diese Texte gar von einem "Identitätsraum Rūm" (359) gesprochen werden könne. Ob nun tatsächlich von einem "rūmischen Patriotismus" (360) die Rede sein könne, wie er im Falle Aqsarāʾīs konstatiert, muss aufgrund der historischen Besetzung dieses Begriffs mit Vorsicht genossen werden, ebenso die Annahme, dass Rūm in den untersuchten historiographischen Texten als in sich "abgeschlossener Raum mit eigener Identität" (361) fungiere. Eine Sonderrolle Rūms im Verband der islamischen Welt ist offenbar den Texten entnehmbar, wobei durch einen synchronen Vergleich diese Hypothese noch zu erhärten ist.
Die gelegentlichen Wiederholungen sind schwer zu vermeiden und rufen dem Leser die wichtigsten Punkte wieder in Erinnerung. Gerade bei Wortspielen in den Quellen wäre es allerdings erwünscht gewesen, wenn die jeweiligen Originalbegriffe an allen Stellen mit angeführt worden wären.
Im Verhältnis zum Fließtext ist der Fußnotenapparat noch einmal ein Universum für sich: Neben dem vollständig verarbeiteten Forschungsstand, der aufgrund der Thematik in mehrere Richtungen weist, werden Nebendiskursen, untergeordneten Fragestellungen sowie ausführlichen Verweisen ein breiter Raum zugewiesen, so dass der Fußnotenapparat geradezu als Steinbruch fungieren und Anlass zukünftiger Forschungsarbeiten werden kann. Die Arbeit Küçükhüseyins befindet sich neben ihres inhaltlichen Anspruchs auf höchstem sprachlichen Niveau und ist stilistisch mit großer Eloquenz verfasst. Er scheut auch nicht Metaphern (Historiker als "Schleusenwärter" historischen Wissens (54)), die allerdings Wortschöpfungen (z. B. "lebensweltliche Planspiele"(43), "Differenzmarker" (386), "Unraum" (411)) beinhalten, welche vereinzelt noch weiter expliziert werden sollten. Küçükhüseyins Textmeditation zeigt hier in eindrucksvoller und vorbildhafter Weise, wie aus Quellen, welche bereits bearbeitet worden sind, mit Hilfe von Theorien neue Erkenntnisse abgerungen werden können. Insofern richtet sich diese Arbeit nicht nur an Historiker und Mediävisten im weitesten Sinn, sondern ebenso an Islamwissenschaftler.
Anmerkung:
[1] Ibn Bībī: El-Evāmirüʾl- ʾAlāʾiyye fiʾl-Umūriʾl ʾAlāʾiyye. Aqsarāʾī: Musāmarat al-Axbār wa Musāyarat al-Axyār. Anon.: Baṭṭālnāme. Aflākī: Manāqib al-ʿārifīn.
Nader Purnaqcheband