Gerald Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990-2010 (= Studien zu Politik und Verwaltung; Bd. 99), Wien: Böhlau 2011, 334 S., ISBN 978-3-205-78633-7, EUR 39,90
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John Breuilly (ed.): The Oxford Handbook of the History of Nationalism, Oxford: Oxford University Press 2013
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Mit diesem Buch zeigt sich Gerald Stourzh erneut als ein Meister der Miniatur, die weite Perspektiven öffnet. Wenn etwa an der Beschwerde gegen den Bescheid eines Bezirksausschusses in einer Bausache die Bedeutung des "richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich" (139) erörtert und dargelegt wird, wie der "vorkonstitutionelle monarchische Absolutismus"(155) wiederauflebt, um durch Verfassungsbruch Krisensituationen zu beheben. Es ging um die Suspendierung der böhmischen Landesverfassung durch kaiserliche Patente im Jahre 1913. Mit ihr wurden der Verwaltungsgerichtshof und das Reichsgericht befasst. Das 1867 geschaffene Reichsgericht wurde in Österreich zum Hüter des "verfassungspolitischen Erbes von 1848" (83).
Etwas Vergleichbares hatte es im Deutschen Kaiserreich nicht gegeben. Der Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit spürt Stourzh in etlichen Studien nach, und ihrer Verbindung zur "Grundrechtsdemokratie" ist ein Beitrag gewidmet, der von Lassalles bekanntem Berliner Vortrag von 1862, in dem er Verfassungsfragen als Machtfragen charakterisiert hatte, zu den Verfassungsentwicklungen in Nordamerika und in Frankreich führt und dann den Grundrechtsschutz in Österreich von 1848 bis in die Gegenwart eindringlich skizziert. Rechts- und Ideenanalyse verbindet auch seine Studie "Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt". An ihr wird ein Grundzug der Zeitgeschichte, wie Stourzh sie pflegt, deutlich: Er macht die Gegenwart mit Entwicklungen vertraut, auf denen sie aufbaut, auch wenn sie in Vergessenheit geraten sind. "Die Formel von der 'Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt', ist so sehr in Vergessenheit geraten, dass ihre Herkunft und ihre Entwicklungsgeschichte erst freigelegt werden mussten." (282) Sie führt bis zu Fichte zurück, dessen "Multiplikator" (277) Lassalle wurde.
Der Titel des Buches, identisch mit dem des ersten Aufsatzes, nennt eine weitere Hauptlinie, entlang der Stourzh durch die österreichische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts führt. Was heißt Österreich in dieser Zeit? Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht das "dualistische Halbjahrhundert" (19) von 1867 bis zum Ende der Monarchie. Er fordert eine "'Archäologie' der verschütteten Themen der dualistischen Struktur der Habsburgermonarchie" (119) und legt zugleich kräftige Spuren, die auszubauen wären. Österreichische Geschichte ist ihm nicht die "Vergangenheit der Republikbevölkerung" (39). Stourzh will die "Monarchia austriaca" als "monarchia composita" sichtbar machen. Er verfolgt ihre Wandlungen vom "vereinigten österreichischen Staaten-Körper", wie das kaiserliche Patent von 1804 es formuliert, zum "zentralistisch-autonomistischen Dualismus", den er als die "Verfassungswirklichkeit Altösterreichs" (64) bestimmt. In ihr trat die "Nation im ethnisch-sprachlichen Sinn" als "konstituierender Faktor der cisleithanisch-österreichischen Staatlichkeit in den Vordergrund" und drängte "ältere traditionellere Komponenten der altösterreichischen Verfassung - das Land, ja sogar die Krone - hinter die neue Realität der entscheidungsbefugten Volksstämme" zurück (121). Im "neuen Primat der nationalen Autonomie" (122) sieht er Entwicklungen angelegt, die in der Zwischenkriegszeit zu einer "Idee der 'Volksbürgerschaft'" (123) führte, die sich gegen das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit stellte. Immerhin, die Studentenordnung der Universität Wien von 1930 hob der österreichische Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig auf. Sie hatte "Volksbürgerschaft" als Ausschluss von Juden definiert.
Gesamtstaat, Länder, Gemeinden - diese drei Ebenen von Staatlichkeit neu auszutarieren wurde zu einer Daueraufgabe seit der Revolution 1848. Ihre Analyse markiert eine weitere Linie, die sich durch das Buch zieht. In Österreich gab es keine Norm "Reichsrecht bricht Landesrecht", so dass der von der "Gemeinde zum Landesausschuss aufsteigende Bereich der autonomen Verwaltung" zum "Spezifikum der altösterreichischen politischen Welt" (54) werden konnte. Wie diese autonomen Institutionen zum "Tummelplatz hemmungsloser Nationalitätenpolitik" (55) und zum "Ort rücksichtsloser Ausnützung" (58) nationaler Mehrheiten wurden, führt Stourzh facettenreich vor Augen. Den Demokratisierungsrückstand der Länderparlamente gegenüber dem Reichsrat beseitigte erst die Revolution von 1918. Sie brachte zugleich, so Stourzh, "einen ganz großen posthumen Sieg der 'Länderautonomie'" (64). Dass die Länder formell ihren Beitritt zur Republik erklärten, habe "ein Stück österreichisches Staatsgefühl begründet" (67), wie auch Ignaz Seipel, der politische Gegenspieler des Staatskanzlers Karl Renner anerkannte.
In den Aufsätzen, die dieser Band zusammenführt, präsentiert sich Gerald Stourzh als Meister einer Rechts- und Verfassungsgeschichte, die erhellende Einsichten auch in Bereiche bietet, für die meist andere Forschungsansätze gewählt werden. So bestimmt er die Schwächung des Individuums als gleichberechtigter Staatsbürger als eine Folge des Ethnisierungsprozesses in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. In welchen Schritten dies geschah, analysiert er, indem er an der Rechtsordnung und der Gesetzgebung offen legt, wie sich die Habsburgermonarchie seit 1848 bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem "multilingual state" in einen "multinational state" (307) - die abschließende Studie ist in englischer Sprache verfasst - verwandelt hat. Seine Hinweise, was dies für den sozialen Wert der Sprachen in der Habsburgermonarchie bedeutete und wie es die Sprachenhierarchie veränderte, bieten Anregungen, die nur ein großes Forschungsprogramm einlösen könnte.
Noch ein weiteres Merkmal der Geschichtsschreibung von Gerald Stourzh sei erwähnt, weil es einen Kontrast zu dem bildet, was heute üblich ist. Er führt ein intensives Fachgespräch mit der Vergangenheit; einen Novitätsbonus in der Forschung gibt es bei ihm nicht. Die Autoren von heute rezipiert er und setzt sich mit ihnen auseinander, aber sie müssen sich gegen die Einsichten von gestern und vorgestern behaupten.
Dieter Langewiesche