Gerald Stourzh (Hg.): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung (= Archiv für österreichische Geschichte; Bd. 137), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, 175 S., ISBN 978-3-7001-3070-3, EUR 29,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Steffen-Werner Meyer: Bemühungen um ein Reichsgesetz gegen den Büchernachdruck. Anläßlich der Wahlkapitulation Leopolds II. aus dem Jahre 1790, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Kia Vahland: Leonardo da Vinci und die Frauen. Eine Künstlerbiographie, Frankfurt/M. / Leipzig: Insel Verlag 2019
Matthias Klöppel: Revolution und Reichsende. Der Transformationsprozess von 1789 bis 1806 im Spiegel ausgewählter Leipziger Periodika, Wiesbaden: Harrassowitz 2019
Gerald Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990-2010, Wien: Böhlau 2011
Gerald Stourzh: Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung. Ein Essay, Wien: Böhlau 2015
Gerald Stourzh: From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America. With Forewords by Bernard Bailyn and John W. Boyer, Chicago: University of Chicago Press 2007
Der vorzustellende Band geht auf ein gleichnamiges Symposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Mai 2000 zurück. Vorab soll gleich hervorgehoben werden, dass der Band, was bei Sammelbänden mittlerweile eher die Ausnahme ist, über ein detailliertes Orts- und Personenregister, eine Gesamtbibliografie sowie ein informatives Autorinnen- und Autorenverzeichnis verfügt. Seinem Titel wird der Band schon dadurch gerecht, dass er ausgewiesene Forscherpersönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern und die jeweiligen Diskurstraditionen zusammenführt.
Statt eines Vorwortes fragt Gerald Stourzh in Anlehnung an Schillers notorische Frage nach dem Ort Deutschlands nach dem Wesen Europas. Er verweist zunächst auf die Praxis sich als europäisch bezeichnender Institutionen. Die OSZE reicht von San Francisco bis Wladiwostok, während der Europarat und der Europäische Gerichtshof ihre Zuständigkeit auf das Gebiet von Portugal bis (einschließlich) zur Türkei, zu Russland, der Ukraine und den transkaukasischen Republiken beschränken. Überschaubarer ist hingegen die Europäische Union, wenngleich gerade sie dazu tendiert, das Substantiv Europa und das Adjektiv europäisch für sich zu vereinnahmen. Noch kleiner ist das Gebiet der europäischen Währung, Euroland, das Jörn Rüsen zum Anlass der Forderung nach einem "kulturellen Euro", nach einer "kulturellen Währung" wurde. In Konsequenz dieser unterschiedlichen Definitionen fordert Stourzh, dass eine sich auf Europa beziehende Geschichtsschreibung "stets weitere Dimensionen im Auge haben" sollte als den jeweiligen geografischen Bezugspunkt einer auch noch so bedeutenden Institution innerhalb Europas. So ist Europa auch nicht mit dem Westen identisch, da der Westen ebenso über Europa hinausgeht wie Europa über den Westen. Ältere Begrenzungen wie die "Hajnal-Linie", das "European marriage pattern", verweisen auf einen bestimmten Sozialraum. Da dieser jedoch nur einen kleineren Teil des geografischen Europa ausfüllt, stellt sich die Frage, in welcher Art von Raum die übrige Bevölkerung des Kontinents lebt. Dann gab es noch das griechischsprachige Byzanz und gibt es die orthodoxe Christenheit. Niemand scheint die Zugehörigkeit des orthodoxen Griechenland zur Europäischen Union infrage zu stellen, obwohl Huntington die Grenze zwischen der lateinischen und orthodoxen Christenheit als Kampflinie der Kulturen definiert.
Selbst die europäische Geschichte lässt sich nicht auf den geografischen Raum Europas beschränken. Zu ihr gehört auch die koloniale Expansion und die größte Zwangsmigration der Weltgeschichte, der moderne Sklavenhandel. Zentrale Entwicklungen der europäischen Geschichte des letzen Vierteljahrtausends, die Umsetzung von Grund- und Menschenrechten, von Verfassungen im modernen Sinne samt Verfassungsgerichtsbarkeit setzten jenseits des Atlantiks früher ein als in Europa.
Stourzh erinnert zudem an ein Statement des vormaligen französischen Außenministers François-Poncet: Es gibt "keine zwingenden historischen, geografischen oder kulturellen Gründe", mit denen die Grenzen der Europäischen Union eindeutig bestimmt werden können. Hier geht es um politische Entscheidungen, die nicht auf der Grundlage der Realitäten von gestern, sondern "von heute und morgen" getroffen werden müssen.
Alle Definitionen Europas sind Folge von Legitimationsideologien.
Wie eine verdichtende konkretisierende Illustration zu Stourzh' Reflektionen über den Ort Europas wirkt der Beitrag von Nicolette Mout "Does Europe have a centre? Reflections on the history of western and central Europe". Mout kann gleich auf verschiedene Monumente in mehreren Ländern verweisen, welche die Mitte Europas markieren sollen: ein Phänomen, welches Europa mit verschiedenen seiner Gliedstaaten teilt. Die gefundenen Mittelpunkte überbrücken die erstaunliche Distanz von Litauen bis Tschechien. Allerdings würde das aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammende Plädoyer für Prag heute weltweite Empörung auslösen, selbst in Prag. "The core of all continents is Europe, the heart of Europe is the German Empire, the heart of the German Empire is Bohemia, and the heart of Bohemia is Prague". So ist es mit der Historizität von Definitionen und Identitäten. Was einst Stolz auslöste und auslösen sollte, ist nun kurios.
Auch Max Engman stellt eine Frage, und zwar jene nach dem "Norden" in der europäischen Geschichte, und muss feststellen, dass Skandinavien selbst in neueren bildlichen und textlichen Darstellungen oft außerhalb des Rahmens unsichtbar bleibt. Dabei unterliegen die keinesfalls identischen Konzepte vom "Norden" und "Skandinavien" ebenso wechselnden Definitionen wie Europa selbst. Konsens besteht allenfalls, dass das bis zum 18. Jahrhundert nördliche Russland heute zum Osten gehört. Dessen räumliche Definition überschneidet sich je nach Definitionsintention in unterschiedlichem Maße mit dem Konzept "Mitteleuropa".
Dieser Thematik ist der Beitrag von Alexei Miller gewidmet. Nach der "Bedeutung der Geschichte Osteuropas für ein gesamteuropäisches Geschichtsverständnis" fragt Andreas Kappeler. Er beginnt mit der nach 1990 jenseits des vormaligen Eisernen Vorhangs allenthalben zu hörenden Feststellung: "Osteuropa ist tot." Die entsprechende westdeutsche historische Subdisziplin überlebte dies. Auch Kappeler bemüht Huntingtons Zivilisationsgrenze, die aber nur sehr vage mit der ehemaligen gesellschaftlichen Systemgrenze in Europa übereinstimmt. Kappelers Fazit: "Der Ansatz, die Geschichte Europas als Prozess der allmählichen Verwestlichung zu betrachten, ist m.E. durchaus legitim", wird wohl noch diskutiert werden.
Dies verdeutlicht schon der anschließende Aufsatz von Maria Todorova "The Balkans as category of analysis: border, space, time". Beunruhigend ist ihre Feststellung, dass ethnische Homogenisierung Wesentliches zur Befriedung und Zivilisierung von staatlich organisierten Gesellschaften beitrage - eine Beobachtung, die jüngst auch in einem anderen Sammelband zur europäischen Geschichte hervorgehoben wurde. [1] Geschichtsvergessene Westeuropäer instrumentalisieren den Verweis auf ethnische Säuberungen zur Stigmatisierung des Balkans, während die Staaten des "Westens" von der Reconquista bis zu den Nostrifizierungs- und Purifizierungsaktionen des 19. und 20. Jahrhunderts nichts anderes taten.
Dazu passt Dan Diners hier wiederholte These, die "jüdische Geschichte der Neuen und Neusten Zeit kommt mit der Historie Europas gleichsam zur Deckung". Allerdings hebt Diner hier auf die "transterritorial und transnational verfasste protomoderne Verbundenheit der Juden" ab. Offensichtlich lebten die Juden in den multiethnischen Reichen der Frühen Neuzeit sicherer als in den homogenisierten Nationalstaaten des modernen Europa.
Die vorausgehenden Beiträge zusammenfassend betont Włodzimierz Borodziej in seinen Überlegungen zum "Standort des Historikers und der Herausforderung der europäischen Geschichte", der "schlimmste, erbliche Virus unseres Kontinents sei der nationale, staatliche oder ideologische Partikularismus".
Abschließend umreist Wolfgang Schmale "die Komponenten der historischen Europäistik", die man umständlicher auch als geschichtliche Europakunde oder historische Europastudien bezeichnen könnte. Die Assoziationen zu "Historik" und "Komparatistik" sind gewollt. Es geht um "den Versuch, Gegenstände und Methoden der Europahistoriographie zu systematisieren sowie neue Konzepte zur Diskussion zu stellen". Der Wiener Ordinarius und Nachfolger von Gerald Stourzh betont den zeitlichen Zusammenhang der Institutionalisierung der europäischen Geschichte mit der zunehmenden Integration der Union. Die Integrationsgeschichtsschreibung stellt bereits eine eigene Disziplin dar und hat durch die EU-Kommission bereits ein eigenes Publikationsorgan erhalten. Die Kommission folgt hier methodisch frühneuzeitlichen Dynastien und neuzeitlichen Nationalstaaten.
Die Schwierigkeit all dieser Versuche besteht darin, aus der oft beklagten angeblichen "Chimäre Europa" und dem "europäischen Dilemma" der Nationalisierung zu einer Geschichtsschreibung zu gelangen, die nicht als Legitimationsideologie einem entstehenden Eurochauvinismus dient. Nach Schmale ist die Kardinalmethode der entstehenden europäischen Geschichtsforschung eine Komparatistik, in deren Zentrum der Kulturtransferansatz steht, um zur Erforschung universal- und teileuropäischer Strukturelemente zu gelangen. Sie werde zu einer intensiveren diskursiven Konstitution Europas beitragen - und damit genau die Existenzform Europas hervorbringen, welche durch neuere Forschungen für alle Epochen der letzten 3000 Jahre immer wieder hervorgehoben wurde. Der Rezensent allerdings hat den Verdacht, dass das populäre Konzept des Kulturtransfers mit seiner grundsätzlichen teleologischen Tendenz, die auf den Nachweis von Gewinngemeinschaften hinausläuft, nichts anderes als eine Legitimationsideologie ist. Denn jenseits des Transfers von Kultur gab es, genauso dominant in der Geschichte unseres Kontinents, den Transfer von Barbarei, von Unheil und Tod, den Transfer des Grauens. Wo bleibt das Negative?
Heinz Duchhardt, dem Direktor des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, fiel es zu, das Symposium zu bilanzieren. Er tat dies unter sieben Aspekten: 1. Europäische Geschichte als von der Öffentlichkeit und Politik erwarteter Zugriff bleibt eine historiografische Herausforderung. 2. Es empfiehlt sich, wie einst Braudel, zunächst "relativ homogene Großregionen" unter bestimmten Aspekten zu untersuchen: Euro-Regionen der Geschichtsschreibung. 3. Eine europäische Geschichtsschreibung wird sich insbesondere auch mit dem Phänomen der Globalisierung und deren älteren Operrationalisierungsversuchen, wie Fritz Kerns Bemühen um eine "Historia Mundi", auseinander setzen müssen. 4. Das Forschungsfeld "Europa und seine Peripherien" ist von bleibender Aktualität. 5. "Die Stunde der Gesamtsynthesen ist noch nicht gekommen", noch geht es um europabezogene Grundlagenforschung. 6. Das bedeutet, europäische Geschichte wird auf absehbare Zeit "Schneisengeschichte", Geschichte bestimmter Aspekte, bleiben. 7. Es darf nicht vorrangig darum gehen, die Integration der Union "emotional-publizistisch" abzustützen. Aber: "Es ist im Prinzip wissenschaftlich nicht anstößig, sich befruchten zu lassen von Integrations- und Europäisierungsprozessen im politischen Bereich".
Hier bleibt ein neues unüberwindbares (europäisches) Dilemma. Dieses könnte jedoch, kreativ genutzt, ein bedeutendes Positivum der europäischen Geschichtsdarstellungen werden. Die Integration dieses Dilemmas würde auch jeder nationalen Geschichtsdarstellung zum Gewinn werden, wenngleich sie sich nicht mit teleologischen Erzählstrukturen verträgt. Geschichtswissenschaft kann es grundsätzlich nur schwer vermeiden, zur Legitimation oder Delegitimation aktueller Politik instrumentalisiert zu werden. Dies zeigte sich im Kontext der kleindeutschen Reichsgründung ebenso wie parallel zum Prozess der europäischen Integration. Es lässt sich zu einem gewissen Grad überhaupt nicht vermeiden, da eine lebendige Geschichtswissenschaft sich immer an den aktuellen Interessen der Gesellschaft orientiert. Historiker müssen dies aber aus Gründen der handwerklichen Korrektheit reflektieren. Dies ließ sich in dem vorliegenden Band mehrfach beobachten.
Anmerkung:
[1] Xosé-Manuel Núnez: Das Europa der Nationen? Nationalitätenprobleme und europäische Öffentlichkeit zwischen den beiden Weltkriegen (1918 bis 1939), in: Jörg Requate / Martin Schulze Wessel (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 2002, 144-169.
Wolfgang Burgdorf