Agnes Husslein-Arco / Stephan Koja: Rodin & Wien, München: Hirmer 2010, 240 S., 217 Farbabb., ISBN 978-3-7774-3301-1, EUR 34,90
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Auguste Rodins Skulpturen und Plastiken nahmen bei den Ausstellungen der Wiener Secession von Anbeginn eine strategisch herausragende Stellung ein, schienen sie doch besonders geeignet zur Popularisierung eines europäischen Kunststils im Zeichen einer symbolistisch-psychologisierenden Befragung des modernen Ichs. Diesem kunsthistorisch bedeutsamen Zusammentreffen widmete sich eine von Stephan Koja kuratierte und von Oktober 2010 bis Februar 2011 im Wiener Belvedere präsentierte Ausstellung, die von einem Katalog (Herausgeber: Agnes Husslein-Arco und Stephan Koja) begleitet wird.
Es ist somit innerhalb weniger Jahre das zweite Mal, dass eine Ausstellung zu Rodin das Augenmerk auf die österreichische und insbesondere die Wiener Kultur des fin de siècle richtet.
Bereits im Jahr 2008 lud das Pariser Musée Rodin unter dem Titel La passion à l'œuvre. Rodin, Freud, collectionneurs zur genaueren Betrachtung der Sammelleidenschaften des Bildhauers und des Erfinders der Psychoanalyse für antike Artefakte ein. [1] Die Pariser Ausstellung konnte überzeugend darlegen, dass dem Künstler wie auch dem Psychoanalytiker die Antike nicht so sehr als eine in sich abgeschlossene und unwiederbringlich vergangene Kulturepoche galt, die für die Moderne nur noch in historisch-musealer oder aber in überzeitlich-ideeller Hinsicht von Belang wäre. Ganz im Gegenteil: Rodin und Freud waren gleichermaßen überzeugt vom spukhaften, in den Artefakten verkörperten Nachleben des antiken Konfliktpotentials. Ihre Sammlungen glänzten folglich auch weniger mit prestigesteigernden Kultobjekten für den bildungsbeflissenen Bürger. Eher boten sie ihnen einen unmittelbaren Anschauungsraum für jenen auch noch die Moderne scheinbar stets heimsuchenden "Prägrand unheimlichen Erlebens" [2], den Aby Warburg als das Faszinationsmuster der antikischen Gebärdensprache für den Renaissancemenschen auszumachen glaubte.
Wurde in der vergleichenden Betrachtung von Rodin und Freud ein bildanthropologischer Brückenschlag zwischen Kunst, Psychoanalyse und Sammeltätigkeit gewagt, versteht sich das Ausstellungsprojekt des Belvedere im Sinne einer kunst- und kulturgeschichtlichen Aufarbeitung der Thematik, die eher nach den historisch greifbaren und weniger nach den epistemologischen Verbindungslinien zwischen Wien und Paris um 1900 fragt. Die einzelnen Beiträge erweisen sich dabei als durchweg profunde wissenschaftliche Analysen, die in der Gesamtschau einem klaren Argumentationsaufbau folgen.
Die Wiener Ausstellung legte den Akzent auf Werke im eigenen Besitz sowie auf die historischen Ausstellungssituationen, innerhalb derer Rodins Werke einst dem Wiener Publikum präsentiert wurden: Im einleitenden Aufsatz von Dietrun Otten etwa wird dargelegt, dass Rodin zwar schon zur Wiener Weltausstellung im Jahr 1873 erste Terrakotten in Österreich präsentiert hatte und auch 1882 und 1898 in Wien mit Werken wie Das eherne Zeitalter zu sehen war (11f.), jedoch erst ab 1898 regelmäßig bei den Secessionsschauen in der Wiener Kunstwelt vertreten war. Dabei handelte es sich um die I. Secessionsausstellung im Jahr 1898, die IV. im Frühjahr 1899, die VII. im Frühjahr 1900, die Segantini-Gedächtnisausstellung von 1901 und die Impressionismus-Ausstellung von 1903 (13f.).
Entsprechend den Sammlungsbeständen des Belvedere, zu denen vor allem einige wichtige Porträtwerke wie etwa die Büste von Henri Rochefort, eine Bronzebüste von Gustav Mahler und eine Terrakottaversion des Entwurfs für das Denkmal für Victor Hugo zählen, konzentrieren sich mehrere Aufsätze auf diese Gattung und ihre kunsthistorischen Verankerungen beispielsweise in der Theorie der Physiognomik (54).
Die Beiträge von Antoinette Le Normand-Romain zur Werkgenese des Victor Hugo und der Eva legen den Akzent auf die doppelte Prozessualität des Kunstwerks bei Rodin, die sich einerseits im oft langwierigen und von vielen Außen- und Materialfaktoren mitbestimmten Entstehungsprozess äußert, zum anderen aber auch in der von Rodin bewusst intendierten Sichtbarmachung des Herstellungsprozesses der Skulptur oder Plastik selbst zum Tragen kommt - etwa durch unbossierte Bereiche oder sichtbare Nahtstellen.
Ein abschließender Aufsatz von Stephan Koja und Sylvia Mraz stellt die Frage nach formal-ästhetischen "Reflexen Rodin'scher Gestaltungsprinzipen" (143) bei österreichischen Künstlern wie etwa Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka oder Fritz Wotruba.
Als eine übergreifende Leitlinie der Textbeiträge lässt sich die Frage nach Rodins kunstpolitisch versiertem Agieren im Umgang mit Ausstellungsmachern, Sammlern und der Presse ausmachen. Diesem Konzept trägt auch die durchdachte Bebilderung des Katalogs Rechnung: Reine Werkabbildungen wechseln sich ab mit zeitgenössischen Künstlerfotografien der Skulpturen und Plastiken, grafischen Skizzen, aber auch Atelier- und Ausstellungsfotografien, Seiten aus Kunstzeitschriften wie dem Ver Sacrum sowie einzelnen Seiten aus Ausstellungskatalogen der Secession. Die Beiträge von Hélène Pinet zu den ausstellungsinszenatorischen Strategien Rodins wie auch zu seinem ambivalenten Verhältnis zur Fotografie machen zum Beispiel besonders deutlich, dass der nach 1900 durchschlagende Erfolg Rodins wohl kaum ohne die von ihm früh verstandenen Mechanismen der neuen Massenmedien möglich gewesen wäre. In historisch-kritischer Perspektive setzt sich diese Tradition der jüngeren, insbesondere französischen Rodin-Forschung dafür ein, den Mythos vom Bildhauer als dem heroisch-singulären Vorkämpfer einer avantgardistischen Bildsprache ebenso zu zerstreuen wie auch das Narrativ einer zu sich selbst kommenden Kunst der Moderne. Unterstützt wird dieses begrüßenswerte Unterfangen freilich auch durch die fortschreitende Auswertung der reichhaltigen Archivbestände des Musée Rodin, die es uns erlaubt, ein immer differenziertes Bild von Rodins Biografie und seinem Wirken zu erlangen.
Und doch meint man des Phänomens Rodin nicht in seiner ganzen Wirkungsbreite habhaft werden zu können, wenn der ästhetisch-künstlerische Einsatz seiner Kunst nur noch historisch verzeichnet, nicht aber mehr in seiner bis heute noch verstörenden Radikalität analysiert werden würde. Dass diese Aktualität Rodins - gerade auch unter einem bildanthropologischen Blickwinkel - immer noch in der skulpturalen Sichtbarmachung von Körperlichkeit, von Leidensszenarien und von Opfergängen zu suchen ist, zeigte nicht zuletzt die überraschende Platzierung der Iris in der von Jean Clair im Jahr 2010 kuratierten Ausstellung Crime et châtiment im Musée d'Orsay, die nach dem Zusammenhang von Kunst, Recht, Schuld und Strafe fragte. [3]
Insgesamt wartet der Katalog 'Rodin und Wien' mit qualitätvollen Untersuchungen und sehr guten Abbildungen auf, die zugleich Lust auf eine weitere Auslotung der diskursiven Verflechtungen zwischen Frankreich und dem Wien des fin de siècle im Zeichen einer Krise des abendländischen Subjekts machen.
Anmerkungen:
[1] Dominique Viéville / Bénédicte Garnier: Rodin, Freud, collectionneurs: la passion à l'œuvre [Musée Rodin, Paris: 15. Oktober 2008 - 22. Februar 2009], Paris 2008.
[2] Aby M. Warburg: Mnemosyne - Einleitung: in: Ders.: Der Bilderatlas Mnemosyne (Gesammelte Schriften; Abt. 2, Bd. 1), hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin 2000, 3.
[3] Jean Clair: Crime & châtiment: les artistes fascinés par les grands criminels. [Musée d'Orsay, Paris: 16. März - 27. Mai 2010], Paris 2010.
Dominik Brabant