Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549) (= Controversia et Confessio. Theologische Kontroversen 1548-1577/80. Kritische Auswahledition; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, X + 1030 S., ISBN 978-3-525-56008-2, EUR 139,00
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Interessieren an Konfessionalisierungsprozessen neuerdings wieder theologische Differenzen und Grenzmarkierungen? Historiographisch hatte ja in den letzten dreißig Jahren alle Aufmerksamkeit der mehr oder weniger staatsbildenden, mehr oder weniger sozialdisziplinierenden Kraft der Konfessionalisierungen gegolten, man betonte ihre zeitliche Parallelität, ihre funktionale Äquivalenz auf allen Seiten, mithin interessierten strukturelle Gemeinsamkeiten, keine theologischen Divergenzen. Die auf acht Bände angelegte Reihe "Controversia et confessio" will nun die gravierendsten innerprotestantischen Auseinandersetzungen Mitteleuropas zwischen Augsburger Interim und Konkordienformel dokumentieren. Sie ist also von vornherein auf Streit angelegt - beklagt nicht dogmengeschichtlich kontraproduktive Querelen und Quengeleien, adelt die Streitlust der beiden nachlutherischen Generationen vielmehr als die für Identitätsbildung und Profilierung wichtige "Streitkultur".
Sie hat ja zwei wichtige Voraussetzungen: Mit Luther war die große Gründergestalt seit 1546 tot, er konnte also nicht mehr schlichten oder autoritativ entscheiden. Dann hieß Konfessionalisierung immer auch: Intellektualisierung des Glaubens. Alles war nun genau festzuzurren, zu definieren, auszuformulieren, für etwas abweichende Auffassungen und Grauzonen blieb da kein Raum. Das konnte am Ende die Geschlossenheit erhöhen - wenn eine oberste leitende Instanz die Zügel in der Hand hielt, wie in der katholischen Welt. In der evangelischen hat es zunächst Hader und Zank befördert. Als sich die gelehrten Theologen daranmachten, die Bewegung in Paragraphen zu bannen, zu definieren und wohlfeile Distinktionen zu produzieren, da stellte sich heraus, dass jeder ein klein wenig andere Auffassungen davon hatte, wie es Luther 'eigentlich' gemeint haben mochte oder jetzt beurteilen würde. Melanchthon hatte sich in vieler Augen als legitimer Nachfolger diskreditiert, spätestens, als er zum kaiserlichen "Interim" nicht auf lautstarke Fundamentalopposition ging; natürlich kam auch der bald notorische Streit zwischen den Universitäten Wittenberg und Jena konfliktschürend hinzu.
Verschiedene historische Umstände beförderten also, positiv formuliert, eine lebhafte Streitkultur - alle hierfür maßgeblichen literarischen Genres will das neue Editionsprojekt berücksichtigen: gelehrte Traktate und derbe Pamphlete, Predigten, satirische Lieder, Flugblätter. Im Widerstreit zwischen Authentizität und rascher Lesbarkeit obsiegte der zweite Gesichtspunkt, so folgt nicht nur die Zusammen- bzw. Getrenntschreibung, sogar die Interpunktion modernen Gepflogenheiten, ferner haben die Bearbeiter sinngemäß Absätze platziert. "Der interimistische Streit" eröffnet als erster Band besagte Reihe, auch wenn aus arbeitstechnischen Gründen der achte Band 2008 zuerst gedruckt worden ist.
Eine umfangreiche "Historische Einleitung" soll vorab das ganze Editionsprojekt kontextualisieren. Sie ist aber missverständlich überschrieben: Dass die Programmatik der Reihe quer zu allem steht, was die Geschichtswissenschaft zuletzt am Konfessionellen Zeitalter interessiert hat, erfährt ihr Leser nicht, denn die Einleitung nennt fast nur theologische Literatur in den Fußnoten, und sie fokussiert auch nahezu ausschließlich theologische Sachverhalte im engsten Wortsinn. Andeutungen außertheologischer historischer Entwicklungen sind sporadisch und nicht immer präzise. Theologiegeschichtlich scheint die insofern eben falsch betitelte "Historische Einleitung", so weit das der Rezensent (ein Historiker) beurteilen kann, substantiell zu sein. Sie lässt die aufsehenerregendsten innerprotestantischen Streitkreise der Jahrzehnte nach Luthers Tod Revue passieren.
Der erste Band stellt Schriften vor, die sich mit dem Augsburger Interim befassen, ob in Magdeburg, ob anderswo. Wie sehr das Editionsprojekt der innerevangelischen Bekenntnisbildung verpflichtet ist, zeigt der Sachverhalt, dass nur eine einzige der katholischen Abhandlungen zum Interim berücksichtigt wurde: die im Grunde verspätete, erst im März 1549 gedruckte Apologie aus der Hand Georg Witzels. Sie wird übrigens exzellent eingeleitet und kommentiert. Aber wir lernen dieser Disposition der Bearbeiter wegen natürlich keine "Controversia" ums Augsburger Interim kennen, sondern die evangelische Kritik an ihm.
Es überwiegen Texte in gelehrtem Duktus, doch sind ferner fünf gegen das Interim agitierende Liedtexte abgedruckt. Eines der zugehörenden Titelblätter ist auch ikonographisch ergiebig: Johannes Agricola als 'Schreibtischtäter' mit Talar und Feder am Pult, das Birett zwischen den langen Eselsohren entlarvt ihn als "Päpstler"; seine Muse ist ein feuerspeiendes Ungeheuer mit drei Köpfen: Engel, Papst und Mameluck, eine auch sonst in diesen Jahren beliebte Verkörperung des Interims. Ein anderes Lied folgt dem "thon/Erhalt vns Herr bey deinem Wort" - das war, vor der 'Reinigung' in modernen Gesangsbüchern, so fortzusetzen: "und stewr des Bapst und Türcken mord". Wollte man überkritisch sein, könnte man monieren, dass die Einleitung diese heikle Fortsetzung nicht herausstellt und dass sie nicht darauf hinweist, wie sehr dieses evangelische Kirchenlied die Katholiken des Konfessionellen Zeitalters erbittert hat; noch das Desaster des Reichstags von 1608 wird atmosphärisch damit zusammenhängen - es musste Katholiken eben bis aufs Blut reizen, wenn sie, an evangelischen Kirchen vorbeigehend, anhören mussten, gerade vielstimmig als "Mörder" diffamiert zu werden. Ansonsten sind die Quellenstücke untadelig bearbeitet. Die Präsentation der 22 berücksichtigten Texte ist sehr leserfreundlich: Anlass und Umstände der Drucklegung wurden gründlich recherchiert; wir lernen die Autoren kennen; eine sehr ausführliche, oft mehrseitige Inhaltsangabe steht dem originalen Wortlaut voran; es werden alle erhaltenen Drucke mit den Bestellsignaturen genannt; ein Faksimile zeigt das Titelblatt der Druckschrift. Auch die textkritischen und sachlichen Kommentare sind über jeden Zweifel erhaben.
Axel Gotthard