Rezension über:

Hans Werner Tobler / Peter Waldmann (Hgg.): Lateinamerika und die USA im "langen" 19. Jahrhundert. Unterschiede und Gemeinsamkeiten (= Lateinamerikanische Forschungen. Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas; Bd. 36), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 310 S., ISBN 978-3-412-20428-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Silke Hensel
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Silke Hensel: Rezension von: Hans Werner Tobler / Peter Waldmann (Hgg.): Lateinamerika und die USA im "langen" 19. Jahrhundert. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16409.html


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Hans Werner Tobler / Peter Waldmann (Hgg.): Lateinamerika und die USA im "langen" 19. Jahrhundert

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Lateinamerika und die USA bilden aus lateinamerikanischer Perspektive eine "Schicksalsgemeinschaft". Über geographische und parallele historische Entwicklungen hinaus sind sie durch vielfältige Verflechtungen miteinander verbunden, die von gewaltsamen Auseinandersetzungen, dem wirtschaftlichen Engagement von US- Unternehmen über Migrationen bis zur Ausbildung gesamtkontinentaler Identitätskonstruktionen in Abgrenzung vom jeweils Anderen reichen. Dies schlägt sich in der Geschichtswissenschaft nieder. Forschungen über Lateinamerika richten den Blick stärker gen Norden als umgekehrt. Hinzu kommt, dass lateinamerikanische Historiographie häufig vor der Folie der europäischen oder US-amerikanischen Geschichte als Defiziterzählung betrieben wird, auch wenn die Vergleichsbezüge nicht immer explizit genannt werden.

Im vorliegenden Band geht es aber weniger um die Verflechtungen, als um einen Vergleich. Die Herausgeber haben mit den jedem Beitrag beigefügten Kommentaren ein attraktives Format gewählt. Während die Kommentare immer aus beiden Regionalperspektiven erfolgen, befinden sich unter den Autoren der Artikel sieben Lateinamerikaspezialisten und nur ein US-Historiker.

Peter Waldmann fragt nach der Rolle der kodifizierten Verfassung im Staatsbildungsprozess. In den USA stieg das Regelwerk zum Gründungsmythos auf, und es gelang eine stabile, demokratische Ordnung zu etablieren. Dies war bei den häufigen Verfassungsänderungen in Lateinamerika nicht der Fall. Laut Waldmann lag die Ursache in einer mangelnden Entsprechung von kodifizierter Ordnung und den sozialen Verhältnissen. Er liefert mit seiner kontrastierenden Darstellung zwischen den USA als bereits bestehender Nation mit egalitären sozialen Verhältnissen und "politischer Reife" gegenüber dem Chaos der lateinamerikanischen Staaten, in denen die Eliten nur für ihre eigenen Interessen kämpften, einen Überblick über den Diskussionsstand der frühen 1990er Jahre. Abgesehen von problematischen Urteilen, wie die Ausführungen zur sozialen und geistigen Unreife Lateinamerikas für demokratische Verhältnisse, stellt der Beitrag einen Ausgangspunkt für weitergehende Debatten des Verfassungsproblems dar. Hier gälte es, neuere Studien einzubeziehen, die ein Bild von den lateinamerikanischen Nationsbildungsprozessen entwerfen, in dem keineswegs nur die Eliten als politische Akteure auftraten. Hinzu kommt die Frage, ob nicht der Vergleich zwischen einem Land und einem Kontinent, auf dem fast zwanzig souveräne Staaten entstanden, bereits auf einen entscheidenden Unterschied verweist.

Hans Werner Tobler und Peter Fleer untersuchen die Entwicklung des Landbesitzes in den USA und Argentinien und die Rolle der Landbesitzstruktur bei der Ausbildung demokratischer Verhältnisse. Sie behandeln damit ein wichtiges Problem, setzen allerdings die Erzählung einer egalitären Erfolgsgeschichte der USA fort. Hier habe der Staat dem Ideal des unabhängigen Farmers mit der Landverteilungspolitik Vorschub geleistet und damit die Entwicklung demokratischer Strukturen befördert. Demgegenüber ging in Argentinien die territoriale Ausdehnung mit einer Ausbreitung des Großgrundbesitzes einher und die Abhängigkeit der Masse der Landbevölkerung habe demokratische Verhältnisse unmöglich gemacht. Abgesehen davon, dass Argentiniens besondere Entwicklung der Land- und Viehwirtschaft im 19. Jahrhundert hier als pars pro toto für Lateinamerika genommen wird, ist zu kritisieren, dass die USA als eine homogene Einheit gesehen werden. Im Süden der USA lässt sich aber auch für die Zeit nach dem Bürgerkrieg kaum von demokratischen Verhältnissen sprechen, wenn man die gesamte Bevölkerung - also auch die afroamerikanische - in den Blick nimmt.

Hartmut Keil und Michael Riekenberg nehmen kollektive Gewalt in den überbewaffneten Gesellschaften Lateinamerikas und der USA in den Blick. Mit Bezug auf Norbert Elias stellen sie die nicht für alle Fälle brauchbare These auf, dass Gewalt eher zwischen gleich starken Konkurrenten auftrete. In beiden Regionen standen sich häufig staatliche und nichtstaatliche Gewaltakteure ebenbürtig gegenüber. Während allerdings in den USA die vigilantistische Gewaltorganisation überwogen habe, in der Gewaltakteure für den Staat Ordnungsaufgaben übernahmen (eine These, der der Kommentator vehement widerspricht), habe es in Lateinamerika eine segmentäre Gewaltorganisation mit einer größeren Spannbreite an Akteuren gegeben, die den Staat höchstens als Mitspieler nicht jedoch als übergeordnete Größe akzeptierten. Die Autoren behandeln wichtige Probleme, wenn sie nach den konkreten Gewaltakteuren fragen, sie vernachlässigen allerdings auch wichtige Aspekte, wie etwa den Umstand, dass ein Großteil der Gewalt in Lateinamerika politisch motiviert war.

Stefan Rinke vergleicht die Erinnerungspolitik und die Bestrebungen, die politische Ordnung in symbolischen Handlungen und Darstellungen erfahrbar zu machen. Er nimmt die Denkmäler von Bunker Hill in Charlestown, das an eine frühe Schlacht im Unabhängigkeitskampf erinnert, und den Obelisken zum Gedenken an die Mairevolution von 1810 in Buenos Aires in den Blick. Beide Denkmäler verweisen darauf, dass die Eliten gerade in Zeiten des politischen Umbruchs wie der Unabhängigkeit daran interessiert waren, die kollektiven Identifizierungen der Bevölkerung zu kanalisieren und auf die Nation zu lenken. Beide hatten zunächst regionale Relevanz, beanspruchten aber darüber hinausgehend nationale Geltung. Während dem Bunker Hill Monument auf Dauer diese Bedeutung nicht zukam, gelang dies mit dem Obelisken. In seinem Fazit hinterfragt Rinke die Vorstellung erfolgreicher nationaler Sinnkonstruktionen in den USA gegenüber Misserfolgen in Argentinien.

Im folgenden Beitrag, der wie der letzte ohne Kommentar bleibt, befasst sich Stephan Scheuzger mit der US-amerikanischen und mexikanischen Indigenenpolitik. In beiden Fällen führte das kolonial geprägte Bild des Anderen zu einer Vereinheitlichung der indigenen Bevölkerung als Gegenpol zum Eigenen. Ähnliche Bilder führten jedoch nicht zu gleichen politischen Strategien. Das staatliche Handeln bewegte sich in den USA zwischen gewaltsamer Verdrängung der Indigenen, Verträgen sowie Versuchen, die indigene Bevölkerung durch Anpassung zu integrieren. Die Indigenen galten als eigenständige soziale Entitäten, die außerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft standen. In Mexiko hingegen fand eine Integration der vorspanischen Kulturen in die protonationalen Vorstellungen statt. Dies erstreckte sich allerdings nicht auf die zeitgenössischen Indigenen, in denen die Liberalen zunehmend ein Entwicklungshindernis sahen. Am Ende verweist Scheuzger auf die vielfältigen Transferprozesse zwischen beiden Ländern im Hinblick auf die Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung, die einer Untersuchung harren.

Der letzte Beitrag von Peter Waldmann skizziert einige, die Eliten betreffenden Aspekte. In beiden Regionen stammten ihre Angehörigen aus Familien, die in der Sattelzeit aufgestiegen waren. Sie verließen sich auf die patriarchale Großfamilie und verfolgten ähnliche Strategien zur Absicherung ihrer Positionen. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand im Einflussverlust der Eliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Demgegenüber verzeichnet Waldmann eine stärkere religiöse Orientierung sowie eine größere Wertschätzung von Bildung bei den US-amerikanischen als den lateinamerikanischen Elitegruppen.

Insgesamt gilt wie immer bei Sammelbänden, dass die Beiträge recht unterschiedlich geraten sind. Während einige recht holzschnittartig daherkommen, weisen andere stärker auf lohnenswerte Fragestellungen hin. Für künftige Projekte dieser Art wäre es sinnvoll, den geographischen Rahmen der zu vergleichenden Fälle auch unterhalb von Nationalstaaten zu suchen, dies würde differenziertere Bilder beider Teile des amerikanischen Kontinents ermöglichen und es ließen sich Beispiele aus den kleineren Staaten Lateinamerikas einbeziehen. Die Bedeutung des Bandes liegt darin, dass er einen häufig implizit vorgenommenen Vergleich zwischen den USA und Lateinamerika explizit macht und damit hoffentlich neue Forschungen anstößt. Verknüpfungen zwischen den Beiträgen können zudem zu neuen Thesen führen. Wenn man den Vergleich der nationalen Symbolik zum Vorbild nimmt, dann ließe sich in Bezug auf die Verfassungen fragen, wie die Texte und die in ihr enthaltenen Werte jeweils repräsentiert wurden und ob in der Darstellung und Selbstinszenierung der neuen Ordnung der Schlüssel dafür zu finden ist, dass die US-amerikanische Verfassung zu einem quasi religiösen Objekt nationaler Verehrung wurde, dies aber keine Entsprechung in den lateinamerikanischen Ländern fand.

Silke Hensel