Sabine Witt: Die Skulpturen der Sluter-Nachfolge in Poligny. Stiftungen und Hofkunst in der Freigrafschaft Burgund unter den Herzögen aus dem Hause Valois (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 4), Affalterbach: Didymos-Verlag 2009, 295 S., ISBN 978-3-939020-04-2, EUR 58,00
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Die kunsthistorische Aufarbeitung der Skulpturen des späten Mittelalters in Poligny, der damals bedeutendsten Stadt der Franche-Comté, ist das Anliegen des Buchs. Es gelingt der Autorin diese nach Themen und Qualität recht unterschiedlichen Werke in ihren ursprünglichen architektonischen und liturgischen Kontext einzubetten, zu datieren, ihre Funktionen zu beschreiben, sie in den Lebenszusammenhang der jeweiligen Stifter zu bringen und sie auch - was aufgrund der Quellenlage freilich hypothetisch bleiben muss - Künstlern zuzuschreiben. Damit ist ein Bestand an Werken erschlossen worden, der bislang in der Literatur verstreut und teilweise recht kontrovers behandelt wurde. Spezialisten waren die Skulpturen bekannt, doch fehlte eine gründliche Untersuchung. In der Stiftskirche Saint-Hippolyte ist eine Vielzahl qualitätvoller Skulpturen erhalten (weitere Skulpturen aus Poligny sind im Metropolitan Museum und im Louvre). Sie lassen sich mit einigen hohen Funktionären am burgundischen Hof verbinden, die aus Poligny stammten und in ihrer Heimatstadt entsprechend große Stiftungen errichteten, wie Châtelet 1989 [1] zeigte.
Witt beginnt mit einer kritischen Zusammenfassung bisheriger Forschung einschließlich der Quellenlage und einer kurzen politischen Geschichte der Franche-Comté, der Stadtgeschichte Polignys und der Baugeschichte der dortigen Kirchen. Dabei hebt sie stark auf die jeweiligen Stifter, ihre Dotationen und Kapellenausstattungen ab. Die Biografien bilden den Rahmen für die Diskussion der erhaltenen Werke, vor allem für Datierungen und Zuschreibungen. Witt behandelt Dominikanerkonvent, Klarissenkonvent, Stiftskirche Saint-Hippolyte und schiebt einen Exkurs zum Benediktinerkloster Baume-les-Messieurs und den dortigen, Poligny sehr nahestehenden Skulpturen ein. Dieser Exkurs basiert großteils auf den Ergebnissen der nur in Teilen publizierten Dissertation von Sandrine Roser. [2]
Datierungen und Zuschreibungen von Werken des späten Mittelalters sind in Burgund und der Franche-Comté schwierig, weil hier der Individualstil Sluters, seine Typenbildung und bestimmte Motive so konstant tradiert wurden. Die Hauptfigur in der Sluter-Nachfolge war vermutlich sein Neffe Claus de Werve. Das Buch wird zugleich zu einer weiteren Diskussion des Œuvres Claus de Werves, das in den letzten Jahren einer Neubewertung unterzogen wurde. Die Problematik bei Zuschreibungen an de Werve besteht vor allem darin, dass die quellenmäßig belegten Werke nicht erhalten sind. Damit sind keine "Schlüsselwerke" gegeben, die als Richtschnur für die Charakterisierung seines Stils gelten können.
Witt bezieht sich als stilistische Referenz häufig auf die Engel am sogenannten Mosesbrunnen als Werke von der Hand de Werves (z.B. 104, 143). Aus den Quellen geht aber lediglich hervor, dass de Werve zwischen Juli 1399 und März 1400 unter anderem an den Engeln mitgearbeitet hat. Art und genaues Ausmaß seiner Mitarbeit sind jedoch nicht näher zu bestimmen. Es sollte verwundern, wenn er vom Entwurf seines Onkels und Werkstattleiters Claus Sluter hätte beträchtlich abweichen dürfen. Deshalb ist es meines Erachtens sehr gewagt, diese Engel heranzuziehen, um den individuellen Stil de Werves zu erschließen. Doch trägt eine Bitte de Werves um Steuernachlass einen gezeichneten Kopf im Profil nach rechts. Dies ist ein Werk, das ganz unzweifelhaft von Claus de Werve selbst stammt. Das Kugelige dieses Kopfes ist so charakteristisch, dass es verwundert, dass Witt diese Zeichnung als Kriterium der Stilkritik nicht heranzieht, obwohl sie die entsprechende Bittschrift zitiert (145, Anm. 521) und die Zeichnung erwähnt (148).
Mitunter ist es schwierig, den Diskussionen der Autorin zu stilistischen Fragen zu folgen, weil die Fotos nicht die entsprechenden Details zeigen, wie zum Beispiel im Vergleich des heiligen Jakobus, Metropolitan Museum of Art, New York, mit dem heiligen Johannes Baptista in Rouvres-en-Plaine (Abb. 18 und 39): Beide Fotos geben die Figuren in Schrägansichten, noch dazu unterschiedlichen, statt frontal wieder, sodass die Beschreibung Witts schwer nachvollziehbar ist. Abb. 16 zeigt die Johannesfigur in Rouvres zwar frontal, ist jedoch sehr klein. Es spricht aber für die Gewissenhaftigkeit der Arbeitsweise, dass die verschiedenen Möglichkeiten der Zuschreibungen und der ursprünglichen Aufstellungsorte diskutiert werden und diese Fragen oft genug offen bleiben müssen. Auch sind Witts Beschreibungen sehr detailliert und sorgfältig.
Die Zuschreibung der Madonna aus dem Klarissenkonvent, einer herzoglichen Stiftung, an de Werve und die Datierung um 1415-17 folgen der Forschung und stützen sich auf einen Stilvergleich mit den Engeln am Grabmal Philipps des Kühnen. Diese stammen wahrscheinlich, aber nicht mit letzter Sicherheit, von Claus de Werve. Ob und inwieweit er hier Vorgaben seiner Vorgänger Sluter oder gar Jean de Marville folgte, ist ebenfalls unsicher. Einleuchtender ist die Begründung, dass eine herzogliche Stiftung für die Ausstattung auf den Hofbildhauer zurückgriff. Das Gewand der Madonna zeigt eng geknöpfte Ärmel, wobei die letzten beiden Knöpfe nicht geschlossen sind. Das deutet Witt als Hinweis darauf, dass die Figur für nahsichtige Betrachtung gedacht war (95). Allerdings zeigen auch die Armfragmente vom sogenannten Mosesbrunnen in Champmol solche eng geknöpften Ärmel - hier aber war eine Nahsicht nicht möglich, weil die entsprechende Figur in mehreren Metern Höhe platziert war.
Eines der Wappen in der am prächtigsten ausgestatteten Kapelle von Saint-Hippolyte, der von Jean Chevrot gestifteten "Chapelle de Tournai", deutete Châtelet 1989 als Wappen Philippe Couraults, konnte aber eine Beteiligung dieses Neffen des Stifters nicht in den Quellen nachweisen, obwohl sie reichlich erhalten sind. Witt identifiziert das Wappen überzeugend als das der Stadt Tournai, eben Chevrots Bischofssitz, und kann damit Philippe Courault wieder aus der allgemeinen Diskussion eliminieren.
Die Rekonstruktion der ursprünglichen Aufstellungsorte der vier Figuren im Chor, die erst nachträglich dort angebracht wurden, überzeugt hinsichtlich des Johannes Evangelista und der Marienfigur. Für die Andreasfigur, Schutzheiliger Burgunds, lässt sich kein originaler Standort finden. Die Frage der ursprünglichen Aufstellung des heiligen Thibaut wird gar nicht angesprochen. Insofern hängt die Argumentation Witts, die gerade Andreas und Thibaut als Referenz an den burgundischen Hof liest, etwas in der Luft. Auch fehlen Nachweise zur Verbindung des Hofs mit Saint-Thibaut.
Dies sind nur kleinere Anmerkungen zu einer im Ganzen schlüssig und bedacht argumentierenden Arbeit. Insgesamt liefert die Untersuchung eine Darstellung weiter Teile der Skulptur der Franche-Comté und auch von Teilen des Herzogtums in den ersten beiden Generationen nach Sluter, geht also über Poligny selbst weit hinaus. Einige der erhaltenen Quellen sind im Anhang transkribiert. Das Buch ist flüssig geschrieben und gut lesbar. Die französische Zusammenfassung wird hoffentlich für die Wahrnehmung der Arbeit auch in Frankreich sorgen.
Anmerkungen:
[1] Albert Châtelet: Roger van der Weyden et le lobby polinois, in: Revue de l'art 8 (1989), 9-21.
[2] Sandrine Roser: L'art à l'abbaye de Baume-les-Messieurs (Jura), dans la première moitié du XVe siècle. Thèse de doctorat, Besançon 2003 (Typoscript).
Renate Prochno-Schinkel