Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Stephan Conermann
In diesem FORUM Islamische Welten finden Sie insgesamt 13 Besprechungen. Eine sehr interessante historiographische Entwicklung der letzten Jahre scheint mir der ernsthafte Versuch zu sein, die Darstellung der Geschichte von Nationen oder bestimmter Räume wie Südostasien, Europa oder Südasien oder vermeintlich religiös determinierter Großregionen wie der islamischen Welt zugunsten globalgeschichtlicher Ansätze aufzugeben. Neben Historikern wie Christopher Bayly, Jürgen Osterhammel, Sebastian Conrad, Andreas Eckart oder Hans Heinrich Nolte hat sich vor allem der in Wien lehrende Peter Feldbauer daran gemacht, diesen Anspruch auch in substantielle Forschung umzumünzen. Seine auf acht Bände angelegte Globalgeschichte von 1000 bis 2000, von der bisher vier Titel erschienen sind, setzt hier erste Maßstäbe. Dabei geht es, wie es in der Einleitung zu dem in dieser Ausgabe der sehepunkte besprochenen Werk über das 16. Jahrhundert heißt, nicht um eine "Nachzeichnung der Europäisierung der Welt, sondern um die Interaktion verschiedener Weltteile bei der Konstruktion unserer Gegenwart."(9) Außereuropäischen Weltgegenden muss eine eigene historische Existenz zuerkannt werden, sie dürfen nicht weiter als geschichtswissenschaftliche Peripherie eines europäischen, nationalen oder imperialen Zentrums verorten werden. Der vorgestellte Band sollte daher - wie eigentlich alle Werke der Reihe - zur Pflichtlektüre für jeden Islamwissenschaftler / jede Islamwissenschaftlerin gehören. (Kulke über Feldbauer/Lehners)
Einer der wichtigsten Verflechtungsräume neben dem Indischen Ozean stellte im 9. und 10 Jahrhundert das Mittelmeer dar. Insofern dürfte die Geschichte Nordafrikas in dieser Zeit sowohl für Orientalistinnen und Orientalisten wie für europäische Mittelalterhistorikerinnen und Mittelalterhistoriker interessant sein. Die Region wurde von Andalusien über Sizilien und Unteritalien bis nach Ägypten von islamischen Herrschaftsverbünden dominiert, was aber natürlich engen Kontakten zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen im Mediterraneum nicht im Weg stand. Einen Einblick in die Gedankenwelt eines muslimischen Gelehrten, der die Etablierung der Fatimidendynastie miterlebte, bietet die Übersetzung von an-Nu'mān b. Muhammads (gest. 974) historischem Werk "Der Beginn des Werbens (für den ismailitischen Imām)". (Scheiner über Haji)
Im Zuge der Globalgeschichte stellt sich die Frage nach der Rolle von Imperien. So rückt auch das Osmanische Reich, das über sechs Jahrhunderte trotz tiefgreifender Krisen Bestand hatte, in das Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn man sich der Frühen Neuzeit weltgeschichtlich nähert. Dass sich ein und dieselbe Dynastie so lange an der Macht halten konnte, hängt sicherlich weitgehend mit der Legitimation der osmanischen Herrschaftsordnung zusammen. Es bildet sich ein typischer Kreislauf heraus: Herrschaft wird durch eine politische Ordnung legitimiert, die ihrerseits durchgesetzt und stabilisiert werden muss und zugleich die Folge der von ihr unterstützten Herrschaft ist. Wird das Ordnungssystem - wie im Osmanischen Reich im ausgehenden 18. Jahrhundert und während des gesamten 19. Jahrhunderts - massiv bedroht, bemühen sich die politischen und religiösen Eliten um eine Sicherung von Autorität und Legitimität. Ein Vergleich mit anderen frühneuzeitlichen Imperien in Europa und Asien bietet sich an. (Sievert über Karateke / Reinkowski)
Bemerkenswert - und ebenfalls bestens geeignet für eine komparatistische Arbeit - ist die Tatsache, dass in der islamischen Welt ein duales Rechtssystem existierte. Dabei waren allerdings die Trennlinien zwischen den Organen bisweilen eher unklar: auf der einen Seite gab es die religiösen Gerichtshöfe, denen die Kadis vorstanden, auf der anderen Seite die säkularen Institutionen, die von "Staatsbeamten" geleitet wurden. Die Bevölkerung konnte sich mit ihren säkularen Beschwerden direkt an den Herrscher wenden, der dann auf der Basis eigenen Gutdünkens Entscheidungen traf. Durch Zufall ist eine Sammlung von Dokumenten aus dem Iran des 19. Jahrhunderts erhalten geblieben, die zwar nicht die Originalpetitionen umfasst, aber immerhin Zusammenfassungen, die von den Beamten des persischen Herrschers Nasir ad-Din Shah (reg. von 1848-1896) angefertigt wurden, um das Material zu bündeln und Entscheidungen zu erleichtern. Hinzu kommen Kommentare zu bestimmten politischen Ereignissen sowie andere offizielle Schreiben und Erlasse. Dieser bemerkenswerte Fund von über 2000 Berichten gibt uns einen einmaligen Einblick in die Rechtspraxis der damaligen Zeit und in die Befindlichkeiten der qajarischen Bevölkerung. (Conermann über Schneider)
Auch die Analyse der islamischen Geschichtsschreibung könnte noch mehr als bisher geschehen von einem transkulturellen Vergleich profitieren. Als Untersuchungskategorie böten sich zum Beispiel narratologische Fragestellungen an. Ein im Forum vorgestellter Sammelband widmet sich der erzähltheoretischen Analyse einer von dem Gelehrten at-Tabari im 10. Jahrhundert verfassten Universalgeschichte. Damit sind zwar erste Ansätze in die richtige Richtung unternommen worden, doch fehlt es noch spürbar an einer innovativen Erweiterung der Textbasis. (Scheiner über Rydving)
Nun kurz zu drei weiteren Abhandlungen: Untersucht der Islamwissenschaftler Omar Kamil in seinem Werk die Beziehung zwischen arabischen und europäischen Juden mithilfe einer politikwissenschaftlichen, ideologiekritischen Analyse, so widmet sich Annette Katzer der Beantwortung einer eher konservativen Fragestellung: Wie sieht das Bild aus, das sich Deutsche etwa von den Arabern machten? Die Autorin kann überzeugend nachweisen, dass das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert einem starken Wandel unterworfen war. (Schüller über Kamil und über Katzer) Als ein sehr sperriges und nur bedingt nützliches Werk hat sich bei näherem Hinsehen die vielversprechend klingende "Encyclopedia of Canonical Hadith" entpuppt. (Conermann über Juynboll)
Damit kommen wir in die Gegenwart: Ein Buch aus der Feder von Bassam Tibi hinterlässt bei dem Rezensenten einen ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite kann man einer Reihe der vorgetragenen Erkenntnisse über den heutigen Islam durchaus zustimmen. Auf der anderen Seite befremden einen die Egozentrik des Autors und seine Polemiken gegen das deutsche Hochschulwesen doch sehr. (Schwanitz über Tibi) Ebenfalls gemischte Gefühle ruft die Lektüre einer Arbeit über den 'Karikaturenstreit' hervor. Das Buch der an der Bostoner Brandeis Universität vergleichende Politik in Europa lehrenden Jytte Klausen widmet sich zwar einem sehr wichtigen und natürlich auch überaus aktuellen Thema, doch hält sich die Verfasserin bei ihrer Analyse bisweilen sehr zurück. So geht sie etwa auf die drängenden Fragen, wer wem den Krieg erklärt hat, ob dies wirklich passiert ist und wenn ja, wie und wann, nicht hinreichend ein. (Schwanitz über Klausen)
Abschließend haben wir in das Forum "Islamische Welten" drei Besprechungen hineingenommen, die sich mit höchst interessanten und für Islamwissenschaftler (und alle anderen) lehrreichen nicht-wissenschaftlichen medialen Produkten befassen. Den Anfang machen zwei Filme: (1) Der Kunst- und Philosophiestudent Tariq Teguia, geboren 1966 in Algier, hat mit seinem Werk "Inland" im November 2009 während der 26. Französischen Filmtage sowohl den Kritiker-Preis als auch den Filmtage-Tübingen-Preis gewonnen. In dem 140 Minuten langen Streifen seziert Teguia, indem er eher mit Andeutungen als mit klaren Interpretationen arbeitet, auf minimalistische Weise den inneralgerischen Konflikt. Damit ist "Inland", so die Rezensentin, auf unspektakuläre Weise ein hochpolitischer Film über die Bedeutung von Grenzen und ihrer Überschreitung in jeder Hinsicht, bar jeden Hauches von Kitsch oder Romantizismus. (2) Djamel Ouahab (Frankreich 2009) hat mit "Gerboise Bleue" einen Dokumentarfilm gedreht, der ein in Frankreich tabuisiertes Thema berührt, nämlich die französischen Atomversuche in der algerischen Sahara 1960/61. Diese Erprobung atomarer Waffen, die direkt vor der Unabhängigkeit des ehemaligen französischen Kolonialstaats durchgeführt wurde, war offenbar eine Bedingung der französischen Regierung unter Charles de Gaulle für die Loslösung Algeriens von seinem 'Mutterland'. Alle Informationen darüber wurden bisher verschwiegen, auch die Leiden der Opfer. (Harwazinski über Teguia und Ouahab)
Ein sehr persönliches Buch hat Hamed Abdel-Samad vorgelegt. Abdel-Samad, der in Ägypten aufgewachsen ist und in Deutschland und Japan lebt, schildert anschaulich seine Identitätsprobleme. Der Rezensent ist davon nicht wirklich angetan, da sich der Autor als hemmungslosen Egomanen darstellt, der allen meint verkünden zu müssen, wie hart das Schicksal ihn persönlich getroffen hat. Es verwundere daher nicht, so heißt es in der Rezension, dass er sein Verhältnis zur Wahlheimat 'Zweckehe' nennt. Aber wer zwinge ihn, dort zu leben und die Leute so zu belasten? (Schwanitz über Abdel-Samad)
Schließlich liegt noch eine Reportage des niederländischen Schriftstellers und Essayisten Geert Mak (geb. 1946) vor, in der uns der Autor Einblicke in die türkische Gesellschaft geben möchte, die er während eines längeren Aufenthaltes vor Ort gewonnen hat. Von seinem Standpunkt auf der Galata-Brücke in Istanbul aus kommt er vor allem mit den Unterschichten der Gesellschaft, etwa mit Schuhputzern, Taschendieben, Nachtschwärmern, Barbesitzern, Prostituierten, Flüchtlingen und Zuhältern ins Gespräch. Geert Mak ist unvoreingenommen, lernbegierig und ein guter Zuhörer. Das zeichnet seine Studie aus. (Kulke über Mak)
Ich wünsche allen viel Spaß bei der Lektüre!