Verena Krieger (Hg.): kunstgeschichte & gegenwartskunst. vom nutzen und nachteil der zeitgenossenschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 238 S., ISBN 978-3-412-20256-9, EUR 29,90
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Bereits vor mehr als achtzig Jahren konstatierte Franz Roh in seinem Buch Nach-Expressionismus die "Sonderschwierigkeiten" bei der "geschichtlichen Befassung" mit der Kunst der "jüngsten Vergangenheit". [1] Zu diesen "Sonderschwierigkeiten" hat es in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Tagungen und Publikationen gegeben (so dass das Problemfeld weit weniger unausgemessen ist, als die hier zu besprechende Publikation suggeriert). [2] Roh selbst sprach auch von der "Gefahrzone" Gegenwartskunst. Zwar räumte er ein, dass das Terrain der Gegenwartkunst aus der "Nahsicht" der Zeitgenossenschaft heraus schwerer zu sondieren sei. Doch erteilte er der noch heute weit verbreiteten Auffassung, einen zeitlich zurückliegenden "Geistesraum [...] besser besitzen und darstellen zu können", eine deutliche Absage - zumindest solange wie der Kunsthistoriker "auch gegenüber seiner eigenen Zeit" "methodische Strenge" und "historischen Instinkt" walten lasse. Instinkt ist hier ein Schlüsselwort. Instinktloser Verzeichnung der Gegenwart gelte es eine "lang haltbare Wertungsart" entgegen zu setzen. [3]
Nun ist Instinkt im Zusammenhang der akademisch-universitären Kunstgeschichte gewiss eine unhaltbare, da schlicht unwissenschaftliche Kategorie. In Rohs Wort von einer "lang haltbare[n] Wertungsart" deutet sich indes ein gangbarer Weg an, den Sebastian Egenhofer in seinem Textbeitrag auf den Punkt bringt, wenn er schreibt, dass Kunstgeschichte in der Annäherung an die Kunst ihrer eigenen Zeit notwendig zur Kunstkritik werde - mit der Konsequenz, dass sie an der Entscheidung, was denn überhaupt Kunst sei, allermindestens mitwirke: "In der Unmenge dessen, was heute als Kunst produziert, ausgestellt und gehandelt wird, gilt es zu markieren, was 'hält', was weiterträgt, was den Namen Kunst oder Werk verdient." (64) Denn diese Arbeit allein anderen (Künstlern, Kunstmarkt, Museen etc.) zu überlassen, trage nicht zur "Neutralität des Zeitenabstandes" (64) bei. Anders gesagt: Zu warten, bis endlich der satisfaktionsfähige historische Abstand konstituiert ist, heißt, dem Problem bloß auszuweichen, es lediglich auszusitzen. Was Christian Demand in seinem Beitrag als "test of time"-Prognose beschreibt, nämlich die kunsthistorisch hergeleitete Voraussage, welche Werke wohl "langfristig erinnerungsrelevant bleiben werden" (43), muss in einer gleichsam kunstkritischen Kunstwissenschaft allerdings keinesfalls so kriterienlos erfolgen, wie Reinhard Steiners Beitrag es der Programmatik des Buches Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart [4] von Anne-Marie Bonnet unterstellt.
Folgerichtig hat die Herausgeberin des vorliegenden Bandes, Verena Krieger, als Leitthema die Fragestellung ausgegeben, "unter welchen heuristischen Prämissen eine kritische Kunstwissenschaft zeitgenössische Kunst rezipieren kann." (17) Es gehe darum, "die paradoxale Struktur jeglichen Versuchs einer Historisierung des Gegenwärtigen" (17) in den Blick zu nehmen, ja "das Paradox einer Historisierung der Gegenwart dialektisch aufzulösen" (44), wie Steiner ergänzt.
So unterschiedlich die Annäherungsweisen der zwölf Autorinnen und Autoren auch ausfallen, in einem doch scheinen sich fast alle einig (und teilen damit Rohs Ansicht): im Befund, dass Gegenwartskunst die Kunstgeschichte (und hierunter wird unisono allein das akademisch-universitäre Fach verstanden) vor Sonderschwierigkeiten stellt, nämlich dem Verlust der historischen Distanz zu ihrem Gegenstand und dem Verlust "eines sicher geglaubten Standpunktes", wie Egenhofer pointiert (60).
Die Herausgeberin bündelt diese Diagnose denn auch in ihrer Einleitung in drei ganz grundsätzlichen Beobachtungen: Erstens seien bei zeitgenössischer Kunst die "wahrzunehmenden und zu beschreibenden Prozesse" noch nicht abgeschlossen und folglich schwieriger zu erkennen und begrifflich zu benennen (Roh hatte dies 1925 die "nahen Verhältnisse" genannt). Zweitens sei die "Masse und der Komplexitätsgrad an verfügbarer Information" (mit Roh: das "Gewirr des Ganzen" [5]) "unvergleichlich viel höher und daher schwieriger zu systematisieren" als in einer historischen Fernsicht. Drittens, so Krieger, sei das "Subjekt der Analyse" qua seiner "unmittelbaren Teilhabe" bei der Beschäftigung mit Gegenwartskunst Teil des "zu analysierenden Phänomens" (6). Es ist dies vielleicht der entscheidende und in vielen der Textbeiträge immer wieder fokussierte Aspekt: die Notwendigkeit der Reflexion des eigenen Handelns und der eigenen Verstricktheit in und mit dem Gegenstand des Interesses.
Dass dem Verhältnis von Kunstgeschichte und Gegenwartskunst gleichwohl nicht mit einfachen Denkschablonen und simpler Schwarzweißmalerei beizukommen ist, belegt so anschaulich wie exemplarisch die Gegenüberstellung der Beiträge von Antje von Graevenitz und Verena Krieger. Während von Graevenitz am Beispiel der Ausstellungsgeschichte der Minimal und Land Art im München der 1960er Jahre aufzeigt, wie ungeheuer fruchtbar die Zeitzeugenschaft der Kunsthistorikerin sein kann, belegt Kriegers Text genau das Gegenteil, indem er am Beispiel der Originalitätskritik von Rosalind Krauss den publizistischen Protektionismus und die "Geschichtsmächtigkeit" (161) einer zum Deutungsabsolutismus depravierten Kunstgeschichte offenbart.
Im Sinne einer allgemeinen Selbstkritik der Zeitgenossenschaft unterbreitet Krieger denn auch in ihrer Einleitung einen stattliche acht Nummern umfassenden (und für die zukünftige Diskussion des Themas zweifelsohne wegweisenden) Thesenkatalog. Da ist erstens von der Unvermeidlichkeit der Kanonisierung die Rede, zweitens von der Notwendigkeit einer Kultivierung "des Bewusstseins der eigenen Historizität" (18). Drittens gelte es, einen "rezeptionstheoretischen Vorbehalt" gegenüber der eigenen Position zu pflegen: in Form einer doppelpoligen Perspektive, nämlich "einen Standpunkt im aktuellen Geschehen einzunehmen und diesen gleichzeitig zu reflektieren" (19). Vor allem sei viertens Parteilichkeit zu vermeiden, ja sich jeder Vereinnahmung und "einer unmittelbaren propagandistischen und ökonomischen Verwertbarkeit" (20) der Forschungsergebnisse zu widersetzen. Damit verbinde sich fünftens das Erfordernis "aus einer Position der Nähe heraus Distanz zum Gegenstand zu gewinnen, doch zugleich gilt es, die eigene Teilhabe am behandelten Phänomen nicht nur als Problem anzusehen, sondern auch zur Stärke werden zu lassen, mehr noch: die eigene Empathie für den analysierten Gegenstand mit zum Objekt der Analyse zu machen und daraus verallgemeinerte Erkenntnisse zu ziehen." (20) Als Vorschlag für eine methodisch reflektierte Kunstgeschichte der Gegenwartskunst führt Krieger sechstens den sozialanthropologischen Begriff der "teilnehmenden Beobachtung" (Malinowksi) ein, den sie allerdings "nicht primär auf das soziale Feld des 'Betriebssystems Kunst'" (20f.) angewendet wissen will, sondern auf die Kunst selbst. Siebtens unterscheide sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gegenwartkunst überhaupt nicht vom Umgang mit historischer Kunst, was ein Wechselspiel von "völligem Aufgehen im Tun" und "einem Zustand der kontrollierten Reflexion" betreffe. Für beide sei die "(bewusst, methodisch fundierte) Bewältigung" (21) dieses Wechselspiels kardinal. Die achte These begegnet dem Leser in Form einer Frage, nämlich danach, ob es nicht das Ziel einer Kunstgeschichte der Zeitgenossenschaft sein solle, "bewusst 'unzeitgemäß' sich an ihrer eigenen Zeit zu reiben." (21)
Natürlich ist dieser, hier verkürzt wiedergegebene Katalog weder auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf Endgültigkeit angelegt. Wohl aber vermag er den nachfolgenden Textbeiträgen den Boden zu bereiten und dem Leser eine Lektüreperspektive zu eröffnen. Überdies wird erst die weitere kunsthistorische Arbeit an der Gegenwartskunst die Tragfähigkeit oder Revisionsbedürftigkeit der einen oder anderen These erweisen, wenngleich sich bereits heute die Frage aufdrängt, ob das Gros der skizzierten Aspekte nicht ebenso auf die Beschäftigung mit historischer Kunst anzuwenden wäre.
So ist schlussendlich bemerkenswert, dass viele der klugen Gedanken, die sich in dieser lesenswerten Anthologie finden, nicht allein auf Gegenwartskunst Anwendung zu finden brauchen, sondern ebenso Gültigkeit auch für den Umgang mit historischer Kunst beanspruchen können. Insofern darf man das Buch guten Gewissens zur Lektüre an die gesamte Fachkollegenschaft empfehlen und sich seinen Titel an mancher Stelle verkürzt denken: Kunstgeschichte & Kunst. Denn das Nachdenken über "Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft" birgt nicht zuletzt auch grundsätzliche Einsichten in das Selbstverständnis des Kunsthistorikers im Allgemeinen, will sagen: als Geschichtswissenschaftler. Wie hatte Franz Roh 1925 mit Goethe bemerkt? Oft rede hier, wo die tieferen Aufgaben der Geschichtswissenschaft, die Interpretationsfragen, begännen, doch nur "der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln" [6]. Vielleicht haben die in diesem Buch entworfenen Positionen zur Zeitgenossenschaft gegenüber einer dem Vergangenen zugewandten Kunstgeschichte einen gewissen Vorsprung, nicht in dem, was Roh "historischen Instinkt", vielleicht aber in dem, was er "methodische Strenge" nannte - zumindest aber in puncto Selbstkritik.
Anmerkungen:
[1] Roh, Franz: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925, 5.
[2] Exemplarisch genannt seien die Sektion "KunstGeschichte und GegenwartsKunst" des XXVII. Deutschen Kunsthistorikertages in Leipzig sowie der Sammelband Hans-Jörg Heusser / Kornelia Imesch (Hg.): Visions of a Future. Art and Art History in Changing Contexts. Zürich 2004.
[3] Roh 1925 (wie Anm. 1), 5f.
[4] Anne-Marie Bonnet: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance. Köln 2004.
[5] Roh 1925 (wie Anm. 1), 6.
[6] Roh 1925 (wie Anm. 1), 5.
Lars Blunck