Verena Krieger / Rachel Mader (Hgg.): Ambiguität in der Kunst: Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 295 S., ISBN 978-3-412-20458-7, EUR 34,90
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Der von Verena Krieger und Rachel Mader herausgegebene Band "Ambiguität in der Kunst" thematisiert ein komplexes Bedeutungsspektrum, das nicht nur inhaltliche Offenheit, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, sondern potenziell ein schier ungreifbares Feld ästhetischer Inkommensurabilität umfasst. Wie Verena Krieger in ihrer Einleitung bemerkt, gilt es, mit den "Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas" zugleich ein (scheinbares) Paradoxon zu untersuchen. Denn während der Begriff ästhetische Offenheit verteidigt, ist er, gestützt von theoretischen Umbrüchen wie dem "Tod des Autors" und der Entwertung künstlerischer Intention als Instrument kritischer Analyse, selbst als künstlerische und kritische Qualitätsnorm etabliert. Doch nicht nur die in der gegenwärtigen Kritik wenig hinterfragte Bewertung ästhetischer Ambivalenz als Qualitätsmerkmal macht misstrauisch, sondern auch die rückwirkende Anwendung des Begriffs als ubiquitäres Wahrnehmungsparadigma: Der Ambiguität scheint ein seltsamer Rest eines Universalitätsgedanken innezuwohnen, der die Vorstellung zeitübergreifender gemeinsamer ästhetischer Erfahrung, so ungreifbar diese auch charakterisiert wird, unterstützt.
Die Publikation versammelt Beiträge einer Tagung, die im März 2009 an der Universität für Angewandte Kunst Wien statt gefunden hat. Der Band präsentiert sich in hoher methodischer und inhaltlicher Vielfalt. Die angesprochene Einleitung Kriegers thematisiert die Probleme der Annäherung an den Begriff und gibt einen Überblick über dessen verschiedene Stationen, der Differenzen und Brüche benennt und Abgrenzungen unternimmt. Trotzdem erscheint der Aufstieg der Ambiguität seit Beginn der Moderne ungebrochen. Kriegers Überblick umfasst ihre Etablierung als Charakteristikum des poetischen Ausdrucks in der Goethezeit und ihren programmatischen Einsatz im Symbolismus und im Surrealismus ebenso wie die umfassendere Inanspruchnahme von "Polyvalenz" (Werner Hofmann) oder "essentieller Vieldeutigkeit" (Hans Blumenberg) als Signum der Moderne. Besonders wirkmächtig ist Umberto Ecos Begriff des "offenen Kunstwerks", der die Unabgeschlossenheit ästhetischer Rezeption beschreibt. Krieger stellt zudem die psychologische, soziologische und politische Bewertung der Ambiguität im 20. Jahrhundert dar, darunter die bekannte von Adorno 1949 mitverfasste Studie, in der Totalitarismus und Autoritarismus in Zusammenhang mit Ambiguitätsintoleranz gebracht wurden.
Die theoretische Aufwertung der Ambiguität in der Moderne erscheint unbestreitbar, doch umso schwieriger erweist sich ihr Nachweis als bildkünstlerisches Mittel. Dementsprechend vielfältig sind die einzelnen Beiträge, die Verrätselungen und Ambivalenzen in der bildenden Kunst seit der Neuzeit als innerbildlichen und metapikturalen Phänomenen nachgehen. Trotzdem ergeben sich dabei einige Konvergenzen, etwa in den von Daniela Hammer-Tugendhat und Regine Prange untersuchten Rückenfiguren, die auf interessante Weise mit der von Oskar Bätschmann ausgeführten Dialektik der Malerei zwischen Zeigen und Verbergen verbunden werden können. Bei der Bewertung dieser Beiträge wird deutlich, dass Ambiguität aber nicht nur als bildrhetorische Praxis begriffen werden kann, sondern ein weiterreichendes kognitives Problem darstellt. Dario Gamboni unternimmt in seinem Beitrag eine historisch bis in die frühe Neuzeit zurückreichende Unterscheidung zwischen dem gezielten Einsatz von Doppel- und Mehrdeutigkeit (etwa in Vexierbildern) und den dadurch angeregten Interpretationsverfahren ästhetischer Offenheit. Wie in seiner eigenen Publikation zum Thema [1], unterstreicht er die Freisetzung der Rolle des Betrachters bei der Generierung ambiguer Bildinhalte. Auch Daniela Hammer-Tugendhat und Tobias Vogt betonen in ihren Beiträgen die Abhängigkeit der Ambiguität von spezifischen ästhetischen und kulturellen Referenzrahmen. Vogt unterstreicht diesen Aspekt in einer Untersuchung eines verwandten Merkmals, der Paradoxie. Es ist begrüßenswert, dass sein Beitrag damit dem expansiven Charakter des Sammelbandes entgegenzusteuern versucht. Zwar vermag eine ausschließlich semantische Analyse nicht die Wirkmächtigkeit des Ambiguen als Wahrnehmungsparadigma zu erfassen. Doch weder seine unproblematisierte Darstellung als isolierte künstlerische Leistung noch die rückwirkende generalisierende Anwendung auf "Dinge, die wir nicht verstehen" hilft, den Begriff kritisch zu durchleuchten.
Einen Abschluss findet der Band in mehreren Beiträgen, die die theoretisch-kritische Forderung nach Ambiguität auf ihre ästhetischen und politischen Wirkweisen und Funktionen hin untersuchen (diese Sektion wird von dem erwähnten Beitrag Dario Gambonis eingeleitet). Rachel Maders Aufsatz leistet dies anhand der Analyse ausgewählter Arbeiten von Neo Rauch, Arnout Mik und Santiago Sierra, indem sie das von der Kritik häufig bereitwillig angenommene Angebot ästhetischer Offenheit als Simulation von Bedeutung beschreibt. Ambivalenz wird dadurch zwar als erst zu entschlüsselndes, aber intendiertes Ergebnis kritischer Interpretation fassbar. Die Destabilisierung des Führungsanspruchs bildender Kunst in Hinblick auf ihre ambivalente Verschränkung mit außerkünstlerischen Diskursen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist der Ausgangspunkt des äußerst reichen Beitrags von Tom Holert. Holert zeichnet die wechselhafte Karriere des Ambiguitätsprinzips nach, das sich als widerspruchsreiche, dialektische Bewegung zwischen spezifischen Anlehnungen und Abgrenzungen entpuppt, etwa in der Unterscheidung semantischer von formaler Offenheit in Susan Sontags Proklamation einer vom Primat des Inhalts befreiten "erotics of art".
Damit zeigt - und so ist das eingangs erwähnte Paradoxon deutlich geschwächt - selbst der Ambiguitätsbegriff Ambivalenzen. Es wäre durchaus wünschenswert gewesen, mehr Beiträge zur Problematisierung des vermeintlichen Paradigmas anzuregen bzw. seine historischen Ausprägungen präziser voneinander zu unterscheiden. Wie fruchtbar eine solche Herangehensweise sein kann, zeigt exemplarisch der allererste Beitrag des Bandes von Silke Tammen. Der Umstand, dass die Autorin erst die Frage nach der Anwendung des Ambiguitätsbegriffs auf Kunstwerke des Mittelalters stellen muss, führt zu einer glücklichen Konstellation, in der der Begriff nicht einfach reklamiert werden kann, sondern kritisch auf seinen Funktionswert hin untersucht werden muss.
Es ist den Herausgeberinnen gelungen, ein komplexes und bisher wenig problematisiertes Feld abgesteckt und für weitere Diskussionen geöffnet zu haben. Die hohe methodische Offenheit birgt, wie bereits skizziert, manche Probleme. Die größte Leistung des Bandes besteht daher weniger in der Ausweitung des Begriffs als in seiner Problematisierung und Konkretisierung als ästhetisches und kritisch-theoretisches Phänomen.
Anmerkung:
[1] Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002.
Eva Kernbauer