Hakan Özkan: Narrativität im Kitāb al-Faraǧ ba'da š-šidda des Abū 'Alī al-Muḥassin at-Tanūḫī. (= Islamkundliche Untersuchungen; Bd. 280), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2008, 426 S., ISBN 978-3-87997-344-6, EUR 49,00
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In einem 1992 publizierten Aufsatz ("Classical Arabic Prose Literature: a researchers' sketch map", in: Journal of Arabic Literature 23 (1992), 2-26) forderten Stefan Leder und Hillary Kilpatrick, auf neue Art und Weise an altarabische Prosa heranzugehen. Anstatt diese nur inhaltlich auszuwerten, sollte versucht werden, sich diesen Texten mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu nähern. In der Folgezeit geschah jedoch nicht viel. Leder selbst legte einige wegweisende Publikationen vor [1] und auch Daniel E. Beaumont griff den Ansatz Mitte der 1990er Jahre auf.[2] Dann war es eigentlich erst Hakan Özkan, der in zwei Aufsätzen, die seiner nun publizierten und hier zur Besprechung anstehenden Dissertation vorangingen, narratologische Analyseverfahren auf klassisch-arabische literarische Abhandlungen anwendete.[3]
Im Zentrum der, wie der Klappentext verspricht, ersten "Analyse, die systematisch Hauptbereiche der Narratologie unter Berücksichtigung der Besonderheiten abbasidischer Prosa behandelt", stehen 500 Erzählungen aus dem von Abū 'Alī al-Muḥassin at-Tanūḫī (gestorben 384/994) verfassten Kitāb al-Faraǧ ba'da š-šidda. Das Oberthema dieses schöngeistigen adab-Werkes ist die "Erleichterung nach dem Tod". At-Tanūḫī gliedert sein Buch nach einem, wie Özkan sehr schön zeigen kann, wohldurchdachten Konzept in 14 Kapitel: Kap. I: Einleitung, Koran; Kap. II: Prophetentraditionen, Sprichwörter; Kap. III-VI: Geschichten mit Schwerpunkt Erleichterung; Kap. VII und VIII: Mittelkapitel ohne besonderen Schwerpunkt; Kap. IX-XIII: Kapitel mit Schwerpunkt Not; Kap. XIV: Gedichte, Abschluss, räumliche Opposition zu I (S. 69).
Nach einer sehr gelungenen ausführlichen Biographie des abbasidischen Verfassers erfolgt im ersten Hauptteil der Arbeit eine Strukturanalyse des Kitāb al-Faraǧ ba'da š-šidda. Zuerst klärt Özkan sinnvollerweise die Frage, was eigentlich eine Erzählung ausmacht. Aus der literaturwissenschaftlichen Standardliteratur von M. Sternberg, G. Prince, G. Müller, G. Genette, J.-M. Adam destilliert er die Minimalstruktur einer Narration (79-80) heraus: eine Geschichte = drei Geschehnisse: a. Initialzustand - statisch; b. Prozess - dynamisch; c. Finalzustand - statisch. Dabei gilt: c. ist Gegensatz/Modifikation von a. Sowie: a. geht b. und damit auch c. voraus. Und: b. ist Ursache von c. Hinzu kommen zwei logische Zusatzerfordernisse: 1. eine wesentliche Erzählfigur, bzw. ein Objekt aus Zustand I muss wiederholt auftreten; 2. es muss ein Zusammenhang zwischen dem Anfangs- und dem zweiten (End-)Zustand bestehen. Die Anekdoten bei at-Tanūḫī entsprechen, so kann der Verf. im Verlauf seiner Arbeit plausibel nachweisen, diesen Kriterien.
An diese Definition schließt sich die eigentliche strukturelle Untersuchung der Narrationen an. Dabei geht es um die äußere Gestalt des Textes: die Länge der einzelnen Anekdote, ihr Anfang und Ende sowie der Umfang der Gedichte, Dialoge und der diegetisch erzählten Abschnitte. Darüber hinaus werden die Verwendungsweise und der Verwendungsort von Bittgebeten, Koranversen und Prophetentraditionen thematisiert. Überaus wichtig ist die Rolle der in den Erzählungen enthaltenden Poesie. In einem seiner bereits erwähnten Aufsätze ("Du rôle de la poésie") konnte Özkan bereits 16 Funktionen von dichterischen Einschüben belegen. Aus diesem Grund verzichtet er in seiner Monographie auf eine ausführlich Darstellung dieses Themas. Dialoge als mimetische Elemente machen, so wird dann aber klar, einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Teil einer gewöhnlichen Anekdote im Kitāb al-Faraǧ ba'da š-šidda aus.
Eine von dem Verfasser dem Leser nun präsentierte Synopse beispielhafter Anekdoten zeigt ausgezeichnet den idealtypischen Aufbau der Texte: 1. Allgemeine Bemerkungen des Autors vor der Quellenangabe; 2. Quellenangabe; 3. isnād; 4. Exposition (Vorstellung der Figuren, Erwähnung eines besonderen, für die weitere Handlung wesentlichen Ereignisses, Gewohnheiten der Hauptpersonen, historische Kontextualisierung der Anekdote); 5. Szenischer Teil/Haupthandlung (Prolepsen, Analepsen, Zeitangaben, linguistische und grammatische Marker).
Auch der zweite Hauptteil des Werkes ist hochinteressant, bringt er doch meines Erachtens ganz neue Erkenntnisse für den Arabisten: Özkan unternimmt hier eine modal-narratologische Analyse seines Materials auf der Basis von Gérard Genettes 1972 erschienenen Studie "Figures III - Discours du récit". Um das Wie des Erzählens zu beschreiben, handelt der Autor nacheinander die zentralen erzähltechnischen Kategorien auf der Grundlage seiner 500 Erzähltexte ab: A. Zeit [Erzählzeit und erzählte Zeit, Dauer (szenisches Erzählen, verschiedene Formen des summarischen Erzählens, also der Raffung, dehnendes Erzählen, Ellipsen, Pausen), Frequenz (Wiederholungen, Wiederauftreten bestimmter Handlungen, repetitives und iteratives Erzählen), Reihenfolge und Anachronien (Prolepsen und Analepsen)]; B. Erzähler 1. Distanz Erzähler/Erzähltes [das Erzählen von gesprochener und gedachter Rede (Dialog, Monolog, Innerer Monolog, Erlebe Rede)], 2. Stimme (der heterodiegetische, homodiegetische und der autodiegetische Erzähler, Wandlung der Erzählstimme im Verlauf einer Anekdote), 3. Fokalisation (Wer sieht bzw. wer nimmt wahr?). Auf faszinierende Weise gelingt es Hakan Özkan zu zeigen, wie komplex und fein komponiert die im Kitāb al-Faraǧ ba'da š-šidda von Abū 'Alī al-Muḥassin at-Tanūḫī (st. 384/994) enthaltenen Anekdoten von ihrer Grundanlage her sind.
Aus meiner Perspektive haben wir es hier mit einer großartigen Abhandlung zu tun, die in der Tat zum ersten Mal konsequent literaturwissenschaftliche Methoden auf zentrale arabische Prosawerke der Vormoderne anwendet. Hakan Özkan hat einen Weg beschritten, dem hoffentlich noch viele Islamwissenschaftler, die sich im weitesten Sinn mit Erzähltexten befassen, folgen werden.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa: Stefan Leder: The Paradigmatic Character of Madā'inīs shūra Narration, in: Studia Islamica 88 (1998), 35-54; ders. (ed.): Story-Telling in the Framework of Non-Fictional Arabic Literature. Wiesbaden 1998.
[2] Siehe Beaumont, D. E., Hard-Boiled: Narrative Discourse in Early Muslim Traditions, in: Studia Islamica 83 (1996), 5-31; ders.: The Modality of the Narrative, in: Journal of the American Academy of Religion 65 (1997), 125-139.
[3] Özkan, H., "Du rôle de la poésie dans le récits du livre al-Faraj ba'd al-shidda d'al-tanukhi, in: Annales Islamologiques 40 (2006), 83-106; ders., Narrengeschichten und die scheinbare Unordnung der Prosakomposition im Kitāb al-bayān wa-t-tabyīn des 'Amr b. Baḥr al-ǧāḥiẓ - Untersuchungen zum ǧāḥiẓschen adab, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 155 (2005), 105-124.
Stephan Conermann