Helga Grebing / Dietmar Süß (Hgg.): Waldemar von Knoeringen. Ein Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie. Reden, Aufsätze, Briefwechsel und Kommentare zu Leben und Wirken, Berlin: vorwärts buch 2006, 2 Bde., 255 S. + 455 S., ISBN 978-3-86602-290-4, EUR 29,80
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Einen weithin vergessenen Sozialdemokraten holen Helga Grebing und Dietmar Süß zurück in das Licht der Öffentlichkeit: Gemeint ist Waldemar von Knoeringen, Vorsitzender der bayerischen SPD von 1947 bis in die 1960er Jahre und Initiator der "Viererkoalition" (1954-1957), stellvertretender Bundesvorsitzender während der aufregenden Zeit, als sich die Partei mit dem Godesberger Programm ein neues Profil gab, und intellektueller Kopf, der über den Horizont der Zeitgenossen hinaus dachte, seine Partei für neue Ideen und Wählerschichten öffnen wollte, wobei er stets auf eine soziale, an Bildung orientierte, moderne Demokratie hinarbeitete. All dies kommt im vorliegenden zweibändigen Werk zum Ausdruck: Präsentiert der erste Band instruktive quellengesättigte Beiträge zu Knoeringens Wirken vor allem in der Nachkriegszeit, so werden im zweiten Band ausgewählte programmatische Briefe, Reden und Schriften Knoeringens abgedruckt und knapp kommentiert.
Knoeringen ist zunächst ein Paradebeispiel für jene Sozialisten, die im britischen oder amerikanischen Exil mit westlichen, pragmatischen und pluralistischen Demokratievorstellungen in Kontakt kamen und ihre revolutionären Ziele zugunsten eines demokratischen Sozialismus aufgaben, wie Hartmut Mehringer und Julia Angster deutlich machen. Der junge Knoeringen, der nicht einer klassischen Arbeiterfamilie entstammte, sondern verarmtem Landadel, war als Auszubildender mit sozialdemokratischem Gedankengut in Kontakt gekommen und hatte sich auch aus einem "ausgeprägten persönlichen und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsgefühl" (Mehringer, Bd. 1, 33) heraus dem Anspruch verschrieben, für die Interessen der Arbeiterklasse einzutreten. Knoeringen erfuhr am eigenen Leibe das "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm). Als Streiter gegen den Nationalsozialismus musste er 1933 fliehen, zunächst nach Tirol und Wien, dann nach Prag, schließlich über Paris nach London. Im Exil wirkte er zunächst für den emigrierten Parteivorstand als Grenzsekretär für Südbayern, der Widerstandszellen mit Schriften versorgte, trat dann aber der Splittergruppe "Neu Beginnen" bei. Wie viele andere junge Sozialdemokraten hatte sich auch Knoeringen durch den reaktiven Kurs der SPD in der Endphase Weimars seiner Partei entfremdet und sympathisierte mit revolutionärem Gedankengut. Erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 näherten sich sozialdemokratische und sozialistische Exilgruppierungen langsam wieder einander an, hatte der Pakt doch einen abgrundtiefen Graben zwischen Sozialisten und Kommunisten gezogen. Knoeringen löste sich ganz vom revolutionären Ansatz, als er 1943 für die Alliierten deutsche Feldpostbriefe auswertete und erkannte, dass eine revolutionäre Erhebung gegen die NS-Herrschaft illusorisch sei. Dass Knoeringen mit Feldpostbriefen und deutschen Kriegsgefangenen arbeiten konnte, verdankte er seinen guten Kontakten zur britischen Labour Party, durch die er auch mit einem antirevolutionären, vom Individuum ausgehenden, pluralistischen Demokratieverständnis vertraut wurde.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland propagierte Knoeringen seit 1946 - dies wird auch im Beitrag von Helga Grebing deutlich - als Mann Kurt Schumachers den "demokratischen Sozialismus", hieß Wirtschaftslenkung und Sozialisierung gut, grenzte sich aber entschieden vom totalitären Kommunismus ab und stellte die "Freiheit des Menschen" immer wieder ins Zentrum seiner Überlegungen. Nicht materielle Interessen sollten den "demokratischen Sozialismus" bestimmen, sondern die "sittlichen Elemente des Sozialismus", also die "Menschlichkeit", welche die sittlichen Anlagen des Menschen voll entfalte (Bd. 2, Dok. 5, 44). Das Menschenbild Knoeringens freilich, so Hedda Jungfer, blieb in seinen Texten immer "merkwürdig unbestimmt" (Bd. 1, 87). Auf jeden Fall lag es in der Logik dieses Ansatzes, dass für Knoeringen zunehmend der "Kulturstaat" zum Ideal avancierte, der zu einer "Gemeinschaft freier, gleichberechtigter und mündiger Menschen" führe. In diesem Kulturstaat erhalte "jeder Bürger die Möglichkeit [...], unabhängig von seiner finanziellen und sozialen Situation jenes Maß an Bildung zu erwerben, das seinen Fähigkeiten entspricht und das ihn in den Stand versetzt, selbst und mitverantwortlich in einer Gemeinschaft zu handeln" (Bd. 2, Dok. 7, 78f.). Auch Hans-Jochen Vogel, der 1947 maßgeblich durch den Einfluss Knoeringens in die SPD eingetreten war und besonders in der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker eng mit ihm zusammenarbeitete, betont in einem eindringlichen Rückblick, Knoeringen habe in der Ausformung von Werten und im Erwerb von Bildung das Fundament einer sozialen Demokratie gesehen - nicht in materiellen Kriterien.
Dieser Stellenwert von Bildung und Bildungspolitik gründete nicht nur in Knoeringens Vorstellung, was Sozialismus sei, sondern speiste sich auch aus einem Politikverständnis, das zukünftige Entwicklungen vorauszusehen und aktiv zu gestalten suchte. Knoeringen beschäftigte sich seit den 1950er Jahren verstärkt mit den Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des sozioökonomischen Strukturwandels infolge der sogenannten zweiten industriellen Revolution, mit neuen Technologien und hier insbesondere mit der Atomenergie, die er im Kern positiv bewertete. Da den neuen Herausforderungen nur durch Planung begegnet werden könne, drang er auf die langfristige Steuerung politischer Prozesse und eine "Modernisierung" der Politik durch Einbindung wissenschaftlicher Expertise. So avancierte er zum Vorreiter der Planungs- und Steuerungseuphorie, die seit den 1960er Jahren über Parteigrenzen hinweg fassbar wird, aber doch vor allem die Sozialdemokratie prägte. Ausgehend von einem optimistischen Wissenschaftsverständnis galt Planung als Voraussetzung für eine freiheitliche, gestaltbare Entwicklung. Dass Planung Freiheit auch beschränken konnte, war Knoeringen indes bewusst: Planung und Steuerung bedeuteten eine Zusammenballung von Macht; die notwendige stärkere Kontrolle dieser Macht setze den politisch gebildeten Bürger voraus.
Folgerichtig engagierte sich Waldemar von Knoeringen stark in der politischen Bildungsarbeit und gründete schon Ende der 1940er Jahre die Georg-von-Vollmar-Schule in Kochel am See. 1956 konzipierte er den "Plan Z" für stärkere gesellschaftliche Bildungsanstrengungen und engere Bund-Länder-Kooperation; in den Folgejahren warb er für eine nachhaltigere Wissenschafts- und Begabtenförderung. Obwohl mehrere Initiativen verpufften, avancierte er zum Ideengeber für einige in den 1960er Jahren verwirklichte bildungspolitische Reformen wie die Einsetzung des Deutschen Bildungsrates, der allerdings nach dem Ende der Planungs- und Reformeuphorie Mitte der 1970er Jahre sein Ende fand.
Knoeringens Wirken in der Bildungspolitik verband sich mit dem Streben, die parlamentarische Demokratie von der Basis her lebendig zu gestalten. 1961 initiierte er in Bayern mit Erfolg das "Gespräch mit jedermann", das den Bürger in die Programmarbeit der SPD einbezog, und Mitte der 1960er Jahre trat er mit dem Konzept "Mobilisierung der Demokratie" an die Öffentlichkeit, das der "formierten Gesellschaft" Ludwig Erhards ein bewusst pluralistisches Demokratiekonzept entgegenstellte.
Schließlich warb Knoeringen, wie Dietmar Süß beleuchtet, für eine Annäherung von SPD und katholischer Kirche: Dies entsprach seinem freiheitlichen Demokratiekonzept und seiner Überzeugung, jede Religion genieße den Schutz des Staates, solange sie keinen Zwang ausübe und sich nicht "auf das Politische begebe, um für bestimmte Parteien einzutreten" (Bd. 2, Dok. 12, 112); der Annäherungskurs diente aber nicht zuletzt auch dazu, die SPD für neue Wählerschichten zu öffnen. Gleichwohl war Knoeringen kein Machtmensch: Er übernahm nie ein Ministeramt und gab, so Klaus Schönhoven, in der Führung der Bundespartei nur ein kurzes Gastspiel, weil er als nachdenklicher Kopf, der sich Themen wie Kultur und Bildung widmete, robusten Alphatieren wie Herbert Wehner an Machtinstinkt und Durchsetzungsfähigkeit unterlegen war. Insofern gibt der Doppelband nicht nur Einblick in die Potenziale und Leistungen Knoeringens, sondern lässt auch seine Grenzen deutlich werden. Vor allem aber zeigt er, dass Knoeringen die "Westernisierung" deutscher Eliten nach 1945 und die Zukunfts- und Planungsorientierung der 1960er und frühen 1970er Jahre fast paradigmatisch personifizierte, aber zugleich abseits von ungebremster Fortschrittsgläubigkeit über politische Antworten auf neue Herausforderungen reflektierte, die sich auf dem Weg in die "Wissensgesellschaft" ergaben und die auch heute noch Aktualität besitzen. Mithin ist es das ausdrückliche Verdienst dieses anregenden Werkes, Waldemar von Knoeringen dem Vergessen entrissen zu haben.
Anmerkung:
[1] Vgl. zur Exilzeit Hartmut Mehringer: Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München u.a. 1989.
Elke Seefried