Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hgg.): Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 232 S., ISBN 978-3-525-36292-1, EUR 19,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Birgit Emich: Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1606-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom, Stuttgart: Anton Hiersemann 2001
Hillard von Thiessen: Die Kapuziner zwischen Konfessionalisierung und Alltagskultur. Vergleichende Fallstudie am Beispiel Freiburgs und Hildesheims 1599-1750, Freiburg/Brsg.: Rombach 2002
Matthias Kaufmann / Alexander Aichele (eds.): A Companion to Luis de Molina, Leiden / Boston: Brill 2014
Arne Karsten: Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001
Arne Karsten: Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Hillard von Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021
Der Begriff der Korruption fehlt in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" und doch muss er wohl als ein genuin moderner Begriff aufgefasst werden, da er zumeist nicht mehr in seinem ursprünglichen - und durch Augustinus noch verschärften - Sinn von Verfall Anwendung findet. Wer in der Moderne von Korruption spricht, meint mehr als nur Verfall, wenngleich der negative Beigeschmack des Ursinns durchaus mitschwingt und Korruption in der Regel auch als ein moralisches Verfallsphänomen wahrgenommen wird. Was korrupt ist, ist weder kulturell noch historisch eindeutig greifbar. Gemeinhin werden durchaus verschiedene Phänomene (persönliche Einflussnahme, Bestechung, Vorteilsnahme, Amtsmissbrauch, Patronage etc.) mit dem Begriff der Korruption belegt und dabei zugleich moralisch gebrandmarkt und als illegitim eingestuft. Korruption ist daher als analytischer Begriff problematisch.
Der vorliegende Band liefert denn auch weder eine Begriffsgeschichte noch eine "Genealogie der Korruption." Er bietet eher einen phänomenologischen Zugriff, der vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart reicht. Indem die Beiträge eben nicht genealogisch angeordnet sind, sondern mit der Gegenwart beginnen und dann zeitlich rückwärtsschreiten, machen die Herausgeber ihre Skepsis bezüglich der heuristischen Probleme deutlich, die mit dem Begriff der Korruption verbunden sind. Wer das Buch also von vorne nach hinten liest, wird mit der Frage des Einsatzes neuer Netzwerke der Naturschutzbewegungen (Jens Ivo Engels) einsteigen und mit der Korruptionsbekämpfung der italienischen spätmittelalterlichen Kommune (Moritz Isenmann) enden. Der Schwerpunkt liegt allerdings deutlich in der Frühen Neuzeit mit Beiträgen zur Marquise de Pompadour als weiblicher Günstling (Eva Kathrin Pollmann), zur Familienstrategie der Schönborn (Arne Karsten), zum Problem ehemaliger Papstnepoten nach Pontifikatsende (Ulrich Köchli) oder zum Aufstieg und Fall des Herzogs von Lerma (Hillard von Thiessen).
In ihrer Einleitung verweisen Karsten und von Thiessen darauf, wie die historische Bearbeitung und Bewertung von Phänomenen der Verflechtung und Vernetzung sich in den letzten 30 Jahren gewandelt hat. Im Zuge sozialanthropologischer Einflüsse auf die Geschichtsschreibung werden Phänomene dieser Art nicht mehr kategorisch als Korruptionsphänomene verortet, sondern als sozial notwendige und akzeptable Strukturen, insbesondere des frühmodernen Staates. Wie Wolfgang Reinhard in seinem Werk zur Staatsgewalt gezeigt hat, waren gerade die informellen Strukturen nicht unwesentlich an der Herstellung der objektiven Verstaatlichung der Welt beteiligt, aus der dann dialektisch alles "Korrupte" ausgetrieben werden soll, um jenen Grad an staatlicher Sachlichkeit herzustellen, den man in der Moderne verwirklicht glaubt, der aber doch wohl eher ein Ideal bleibt. Doch damit sind wir bei einer weiteren Schwierigkeit: Korruption lässt sich nicht durch die Verfolgung der Begriffsverwendung fassen, da Korruption immer auch ein politischer Kampfbegriff ist. Korrupt ist immer der andere. Einige der Beiträge (U. Köchli, C. Rohrer, V. Reinhardt) machen dies sehr deutlich. Allerdings kann gerade die Frage, wie Korruption dann konstruiert und nachgewiesen wird, Aufschluss geben über sonst nur implizite gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Von Korruption zu sprechen, macht daher in erster Linie in einem politischen Kontext Sinn.
In dieser Hinsicht fällt der Beitrag von Ulrike Krampl ("Diplomaten, Kaufleute und ein Mann obskurer Herkunft. Alchemie und ihre Netzwerke im Paris des frühen 18. Jahrhunderts", 137-162) etwas aus dem Rahmen. Nicht die Frage politischer Macht und Einflussnahme steht hier im Mittelpunkt, sondern die Bedeutung von Netzwerken zur Wissensdiffusion und für Geschäftsbeziehungen. Die von ihr beschriebenen alchemistischen Netzwerke durchziehen zwar durchaus die Gesellschaft bis an die monarchische Spitze, doch zumindest in den vorliegenden Seiten wird die "Machtfrage" nicht explizit gestellt. Von Korruption zu sprechen, macht jenseits der Metaphorik allerdings nur dann Sinn, wenn von Amtsträgern die Rede ist. Damit kann die Frage nach Korruption gewissermaßen als Sonde zur Sichtbarmachung des spezifischen "Begriffs des Politischen" einer Gesellschaft und ihres moralischen Verständigungshintergrundes dienen. In dieser Hinsicht liefert der Band, gerade auch weil er sich durch die Anordnung der Beiträge dem teleologischen Zugriff verweigert, ausgesprochen interessantes Anschauungsmaterial. Er stellt dabei implizit die Frage, wie die dargestellten Phänomene jeweils historisch zu fassen sind: Vor dem Hintergrund des spezifischen Zeithorizonts oder im Hinblick auf eine analytische Kategorie, die von dem noch eher wertneutralen "Netzwerk" bis hin zur eher verwerflichen "Korruption" reicht?
Auch die dem objektiven Korruptionsbegriff skeptisch gegenüberstehende Rezensentin kommt allerdings ins Grübeln, wenn z.B. Christian Rohrer die Frage stellt: "War Gauleiter Koch korrupt?"(46-69). Gerade die Pervertierung aller Werte durch das System, für das der Gauleiter steht, macht die relativistische Korruptionsbestimmung als "Widerspruch von Mikro-Moral und Makro-Moral" (Rohrer, 65), wie der Autor unterstreicht, nur schwer haltbar. Auf moralisch sichererem Grund fühlt man sich paradoxerweise hingegen ausgerechnet mit den von Moritz Isenmann beschriebenen Mechanismen der Verhinderung von Begünstigungen und Amtsmissbrauch in den mittelalterlichen italienischen Kommunen, die vor allem die Amtsführung der Richter im Blick hatten ("Rector est Raptor. Korruption und ihre Bekämpfung in den italienischen Kommunen des späten Mittelalters", 208-230). Das Mittelalter scheint plötzlich urmodern: Korruption ist durchaus ein Tatbestand, und zwar vor allem einer, der all jene betrifft, deren Aufgabe es ist, das Recht zu sichern und herzustellen. Damit machen die mittelalterlichen Juristen eines klar: Korruption ist deshalb verwerflich, weil sie die Herstellung von Gerechtigkeit, die Grundlage und Legitimation des Staates schlechthin, untergräbt. Indirekt geben sie vielleicht ungewollt einen Schlüssel zur Hand, wie zwischen nützlichen Netzwerken und korrupten Seilschaften oder korrupten Netzwerken und nützlichen Seilschaften zu unterscheiden ist: Alles eine Frage der Gerechtigkeit.
Nicole Reinhardt