Johannes Süßmann / Susanne Scholz / Gisela Engel (Hgg.): Fallstudien. Theorie - Geschichte - Methode (= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge; Bd. 1), Berlin: trafo 2007, 273 S., ISBN 978-3-89626-684-2, EUR 17,80
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Als philosophisches Problem wird der Zusammenhang zwischen Einem und Vielem nicht erst seit Kants "Kritik der Urteilskraft" diskutiert, in der naturwissenschaftlichen Methodendiskussion nicht erst seit Bacon, Boyle und Newton. Doch obgleich zahlreiche Studien seit Thomas Kuhn die Genese des experimentellen Einzelfalls zum Erkenntnisparadigma nachvollzogen haben, bleiben zahlreiche Wissenschaften Rechenschaft über das vermeintlich vorverstandene Wesen des Falles und der Fallstudie im jeweiligen Erkenntnisanspruch und -wert schuldig. Die schmerzhafte Lücke solch' fundamentalen (meta-)theoretischen Desinteresses in und über den einzelnen Disziplinen zu schließen, ist darob ein "riskantes" (7) Unterfangen, das die Teilnehmer einer international-interdisziplinären Tagung im September 2005 in Frankfurt am Main gewagt haben. Als Auftakt der "Frankfurter Kulturwissenschaftlichen Beiträge" liegen deren Ergebnisse nunmehr in Form eines von Johannes Süßmann, Susanne Scholz sowie Gisela Engel herausgegebenen Sammelbandes unter dem Titel "Fallstudien: Theorie - Geschichte - Methode" vor - und das Risiko hat sich gelohnt, nicht obwohl, sondern gerade weil viele Beiträge zur kontroversen Diskussion anregen und zur Fundamentaldebatte über Sinn und Zweck von Fallstudien bzw. vielmehr ihren Varianten (21) zumal in der Historiographie einladen. Noch ist hier das angemessene Verhältnis von Einzelbeobachtung und Gesamtbild kaum angemessen austariert, das "distributing the historical cargo into a series of non-communicating containers" [1] ein unbewältigtes Problem.
Wie Johannes Süßmann in seiner konzisen Einführung darlegt, hat der Konstruktivismus gegenläufige Entwicklungen in den Sozial- bzw. Kulturwissenschaften bewirkt: Wird für erstere Subjektivität und Narrativität von Fallberichten zum Problem, macht die Mikrohistorie oder die Psychoanalyse (dazu nimmt hier George Rosenwald Stellung) sie gerade zur Lösung. Solche Divergenzen leiten den Sammelband zur Historisierung der Fallstudie hin, zur wichtigen Grunderkenntnis dessen, dass Fälle keineswegs vom Gegenstand des jeweiligen wissenschaftlichen Faches bedingt werden, sondern vielmehr methodische Konstrukte darstellen: Sie sind eben nicht selbstverständlich, Geschehenes muss erst zum Fall gemacht werden (10). Der wesentliche Vorzug des Buches liegt deshalb in seiner historischen Perspektive, die Charlotte Furths Beitrag über die vormoderne chinesische Rechtspraxis, die dem einzelnen Fall ohne den vermeintlich notwendigen Rekurs auf ein übergeordnetes Erkenntnisraster begegnete (65), substantiell erweitert. Für den europäischen Kontext wiederum legt Simona Cerutti anhand der Entwicklung des summarischen Verfahrens in der Rechtskunde zur Zeit des aufkommenden Empirismus dar, dass die Genese des "Falles" und die ihm zugeschriebenen Erkenntnisse vor allem die "Geschichte der Legitimität der Alltagserfahrung als Quelle und Gegenstand des Rechts und der Wissenschaft, als Quelle von für legitim erachtetes [sic!] Wissen" widerspiegeln (78). Als Katalysator des Bacon'schen Empirismus betrachtet auch Michael Stollberg die seit dem 16. Jahrhundert immer umfangreicher werdenden medizinischen Fallberichte: Die Ablösung prospektiver Consilia durch retrospektive Fallberichte ergab, Friktionen wie der Vorliebe der Ärzte-Autoren für erfolgreiche Heilungen zum Trotze, eine praxisnahe medizinische Kasuistik mit umfassendem Datenbestand, doch ohne Bindung an übergeordnete Philosopheme (86). Wie just beides, juristische und medizinische Beispielsammlungen, Machiavelli bei der Abfassung seiner "Discorsi" inspiriert hat, demonstriert Carlo Ginzburg. Des Florentiners Analogkonstruktion einer historischen Beispielsammlung (41) war als empirische Anthropologie natürlicher, menschlich-politischer Verhaltensmuster konzipiert - im Übrigen ein Anliegen der Aufklärung, die im Band vielleicht unterrepräsentiert ist. Wie die Fallstudie langfristig zum konstitutiven Bestandteil der Wissensordnung wurde, belegt Susanne Scholz, indem sie den Eingang einer zunehmend positivistischen Fallstudienbezogenheit des 19. Jahrhunderts als "Metafallstudie" (193) in Stevensons "The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde" betrachtet. Ulrike Bergermanns Ausführungen über die Kybernetik beschäftigen sich schließlich mit einem geradezu tyrannischen Regelsystem, das den Fall als Einzelfall gar nicht mehr wahrnimmt, mithin "irreduzible Besonderheiten eines Falls" ausschließt (248).
Fälle muss man eben erst erschaffen, wie Xenia von Tippelskirch in ihrer Analyse der Vita der Sestilia Sabolini dialektisch argumentiert - selbst normative Exempelliteratur ist ein potentieller Fall historischer Betrachtung, unbeschadet ihres narrativen Realitätsgehaltes (232). Ob es angesichts solcher Wandelbarkeit sinnvoll sein mag, methodisch den deskriptiven Fall vom normativem Exempel zu unterscheiden, wie Anita Traninger mit Blick auf Sündenfallrepräsentationen in Texten des späten 17. Jahrhunderts (205) oder Petra Schulte anhand von Tugendzuschreibungen im Frankreich König Karls VI. (220) urteilen, bleibt zu hinterfragen: Jeder Fall kann, dem rhetorisch-illokutionären Ziel des Sprechaktes gemäß, zum Exempel werden, und umgekehrt auch jedes Exempel zum Fall. [2]
Hier liegen also Desiderata der Forschung, denn die meisten Beiträge (eine der Ausnahmen bildet Bettina Wahrigs Untersuchung über interdependente Vergiftungsdiskurse in medizinischen wie juristischen Fallberichten) lösen das Versprechen einer Typologie der Falldarstellungen anhand der Kategorien der Narrativik, Epistemik und Pragmatik kaum ein, die Süßmanns Einleitung zur Diskussion stellt. Sicherlich belegen die zahlreichen Einzelbeiträge Wandel und (Ko-)Existenz serieller Fallsammlungen, induktiv-subsumptiver Normenfindung und Fallstudien mit dem Charakteristikum irreduzibler Besonderheit (21f.), die vor allem Joachim Jacob unter Rückgriff auf Siegfried Kracauer und Karl Philipp Moritz betont - doch vielleicht springen sie teilweise einen Schritt zu weit, indem sie der vorigen Klärung desjenigen, was jeweils als "Fall" wahrgenommen wurde, nicht genügend Raum zuweisen. So erscheint Lorenz Rumpfs Aufsatz über die Perzeption von Interessenkonflikten in der griechischen und römischen Antike bei aller inhaltlicher Originalität eher als bloßes Beispiel einer Fallstudie, so mag Thomas Loer zwar Regionen trefflich als sozio-kulturelle Einheiten beschreiben, die als "Einflussstrukturen" begriffen werden müssten (155), doch bleibt seine Auffassung des Falles als Melange von "modus operandi" sowie "opus operatum" (156) methodisch eher unverbindlich. Und ob Heinz D. Kittsteiners wertvoller Beitrag über Analogien bei Marx und Spengler noch im gleichen Sinne von "Fallstudien" redet, wenn er sie mit der "Anwendung einer Theorie auf ein 'Stück Geschichte'" gleichsetzt, ist zu bezweifeln - selbst ein enges "Verhältnis von Gesetz und Experiment" (177) stellte im Übrigen eine Anwendung auf die Historiographie nicht notwendigerweise in Frage. [3]
Freilich ist es gerade solch' kritische Aufmerksamkeit, die der Sammelband hervorrufen möchte, um den vornehmlich empirischen, analytischen und historischen Blick (19) auf das Genre zu erweitern. Nicht nur in dieser Beziehung wird er seinem verdienstlichen Anspruch überaus gerecht, tauglicher Beginn eines interdisziplinären Austausches über Wesen und hermeneutisches Potential des Falles sowie der Fallstudie zu sein - beides wird in historischer wie in methodischer Hinsicht fortan umfassend zu diskutieren sein.
Anmerkungen:
[1] Eric Hobsbawm: On History, London 1998, 88.
[2] Cf. Mark Bevir: The Logic of the History of Ideas, Cambridge 2002, 139.
[3] Cf. Carl G. Hempel: The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy, Band 39 (1942), 35-48.
Georg Eckert