Gerhard Pfeisinger: Arbeitsdisziplinierung und frühe Industrialisierung 1750-1820, Wien: Böhlau 2006, 318 S., ISBN 978-3-205-77516-4, EUR 39,00
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Gerhard Pfeisinger benennt als zentralen Gegenstand des vorliegenden Buches "die Vorstellungen und Denkfiguren, die Ideen und die Rhetorik am Beginn der 'Arbeitsgesellschaft' sowie deren ökonomische, soziale und kulturelle Grundlagen und Wirkungen in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus" (17). Die Frage, wessen Vorstellungen etc. er meint, beantwortet er im nächsten Satz: "Diesem Komplex des obrigkeitlichen Denkens, der Annahmen und Entwürfe" will er vor allem am Beispiel der Linzer Wollzeugmanufaktur nachgehen, eines der größten Unternehmen in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert. Es geht ihm dabei um "Arbeitsdisziplinierung" im Sinne von Machtausübung und die vielen "Stellschrauben und Mechanismen", mit denen Individuen schon damals manipuliert wurden. Er folgt Foucaults Thesen einer vernetzten Machtausübung und sieht Arbeitsdisziplinierung als "'Projekt' des gelehrten und staatlich-obrigkeitlichen Diskurses": "Arbeitsdisziplinierung war in das gigantische Projekt der universellen Erziehung des Staatsvolkes eingebettet" (18). Die hier ausführlich zitierte Grundkonzeption ist auf wenige Zeilen konzentriert, sie wird gewissermaßen verlängert in die einzelnen Untersuchungsfelder des zweiten und dritten Hauptteils.
Im ersten Hauptteil stellt Pfeisinger die frühe Industrialisierung vor, so wie er sie versteht. Er knüpft an die "Proto-Industrialisierung" als forschungsstrategisches Konzept an, ist darüber aber alles andere als gut informiert, weil er den Forschungsstand seit den 1980er Jahren nicht mehr präsent hat. Sodann folgt eine aus der - wiederum eher älteren - Literatur bestrittene Darstellung des Merkantilismus in Österreich und speziell der Rolle der Textilindustrie. Die von der Sache her notwendige Klärung der Betriebsformen Manufaktur und Verlag erfolgt nur unzureichend.
Der Leser oder die Leserin, die angesichts der Ankündigung eine gründliche empirische Untersuchung der Linzer Wollzeugmanufaktur erwarten würden, sehen sich enttäuscht. Denn im zweiten Hauptteil mit dem Titel "Industrie und Glück" dominiert über weite Strecken die Vorstellung von sozialhistorischen Konzepten und Ordnungsvorstellungen zu "Sozialdisziplinierung", Staat und Ordnung, Wohlfahrt und Glückseligkeit. Am letzten Abschnitt unter der plakativen Überschrift "Negation des Schlaraffenlandes" soll dies exemplarisch gezeigt werden. Einigen theoretischen Stimmen zum Zusammenhang von Arbeitsethik und Zwang zu wirtschaftlicher Lebenshaltung, die die Bandbreite zwischen Aristoteles und Schiller abdecken und nebenbei einen Seitenblick auf afrikanische Gesellschaften im Kolonialzeitalter werfen, folgen kurze quellenfundierte Einsprengsel über die Frauen- und Kinderarbeit in der Linzer Wollzeugfabrik. Wir erfahren, dass für diese mehrere 10.000 Tausend Spinnerinnen und Hilfsarbeiterinnen arbeiteten. Für die Löhne, die sie erhielten, sind keine Quellen hinterlegt. Sowohl zur Frauen- als auch Kinderarbeit wird der spezielle Forschungsstand referiert, wodurch sich nach langem Anlauf die eigentliche Quellenanalyse auf wenige Seiten beschränkt. Bei der Kinderarbeit schweift der Verfasser dann schnell wieder zu theoretischen Überlegungen der Zeitgenossen über Arbeitspädagogik ab. In einem weiteren Unterabschnitt stellt er die Einrichtung von Zucht- und Arbeitshäusern in Österreich in den Zusammenhang einer Bettlerpolitik, wobei die herangezogenen Theoretiker Marx, Ricardo, Goffman, Foucault und Bourdieu die wenigen empirischen Fakten, oft nur sekundär ermittelt, überlagern.
Der dritte Hauptteil unter dem Titel "Arbeitsdisziplin und Fabriksystem" behandelt die Auswirkungen von obrigkeitlich initiierter Arbeitsdisziplinierung auf Individuen anhand von fünf Leitkategorien: Zeit, Raum, Hierarchie, Unfähigkeit zu arbeiten wegen Krankheit und Alter sowie Widerstand. Das Strickmuster ist ähnlich. Wenig Empirie steht viel Theorie quer durch die Jahrhunderte gegenüber. Knappe Bemerkungen zu frühen Arbeitersiedlungen im 18. Jahrhundert, zur internen Arbeitsorganisation in der Linzer Manufaktur, zur sozialen Sicherung und zu den Widerstandsformen der arbeitenden Unterschichten schreien geradezu danach, vertieft zu werden und in vergleichende empirische Analysen eingebettet zu werden. Das erfolgt jedoch in dieser Arbeit nicht, was den Rezensenten auch ziemlich frustriert hat.
Natürlich lässt sich über das angemessene Verhältnis von Theorie und empirischer Forschung in den Geschichtswissenschaften trefflich streiten, doch bleibt von diesem Buch der Eindruck haften, die Empirie störe nur die theoriegeschichtlichen Überlegungen des Verfassers. Die Forschung zu Manufakturen im 18. Jahrhundert ist seit langem vernachlässigt. Sie erfuhr eine Zwischenblüte in den 1950er und 1960er Jahren, die von der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichtsforschung (Forberger, Krüger) ausging. Für eine neue Bewertung der (zentralen und dezentralen) Manufakturen hat diese Arbeit (immerhin eine Habilitationsschrift!) leider keinen Beitrag geleistet. Deshalb kann der Rezensent auch nicht die Schlussbemerkung von Karsten Uhl teilen, der dieser Arbeit - bei ähnlich kritischen Worten zur dünnen Quellenauswertung - attestiert, dass sie "neue Wege" einschlägt, die nachhaltiger Erforschung bedürfen. [1]
Anmerkung:
[1] Karsten Uhl: Rezension zu: Gerhard Pfeisinger: Arbeitsdisziplinierung und frühe Industrialisierung 1750-1820. Wien 2006. In: H-Soz-u-Kult, 17.04.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-034.
Wilfried Reininghaus