Markus A. Denzel / Andrea Bonoldi / Anne Montenach u.a. (Hgg.): Oeconomia Alpium I: Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums in vorindustrieller Zeit. Forschungsaufriss, -konzepte und -perspektiven, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, VIII + 313 S., ISBN 978-3-11-051920-4, EUR 99,95
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Brig mit dem Stockalper-Archiv, einem der wichtigsten europäischen Kaufmannsarchive der Frühen Neuzeit, war seit mehr als einem Vierteljahrhundert Ort einer Reihe von internationalen Tagungen, die nun in eine dreibändige Wirtschaftsgeschichte des Alpenlandes in vorindustrieller Zeit münden sollen. Hierzu wurde eigens eine "StoAlp-Kommission" gegründet. Einleitend zu diesem Band, der aus einer Vortagung in Hall (Tirol) hervorging, stellte der Präsident der "StoAlp-Kommission" Markus A. Denzel konzeptionelle Überlegungen zum Gesamtprojekt an. Orientierungspunkte bieten Fernand Braudel (und sein Schweizer Schüler Jean-François Bergier). Ziel sei es, "den bisherigen Regionalismus in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung des Alpenraums zu überwinden" (7). In den Vordergrund rücken Austausch, Handel und Migration sowie "die innovative Kraft des Unternehmers" (18).
Umrisse eines "alpenländischen Kapitalismus" entwickelt Gabriel Imboden im Anschluss daran. Andrea Boldoni lenkt den Blick auf institutionelle Aspekte und geht auf den Staat, die Familie, die Grundherrschaft sowie das Transportgewerbe ein. Alessio Fornasin fragt nach den Charakteristika der demographischen Entwicklungen in den Alpen und schließt quellenkritische Überlegungen ein. Zum Thema "Klima und Umwelt" lotet Christian Rohr Potenziale und Probleme anhand vieler Beispiele von der Lawinengefahr bis zur Heuschreckenplage aus. Gerhard Siegl dokumentiert den Forschungsstand zu ländlichen Gemeingütern, wobei er den deutschen Begriff "Allmende" als Sammelbegriff für irreführend hält, weil er die regionalen Spezifika nicht erkläre. Katia Occhi zeigt Strukturen der alpenländischen Holzwirtschaft als Verbindung zwischen den Bergen und der Ebene auf. Die Verbindung zu den Bergbausiedlungen und Migrationen der Bauhandwerker sind u.a. Themen aus Reinhold Reiths Beitrag zum alpinen Gewerbe. Statt der Frage nachzugehen, ob die alpine Bevölkerung selbstgenügsam sei, rät er, Kontexte der Produktion zu untersuchen. Der Frage der Arbeitswanderungen, verknüpft mit den städtischen Arbeitsmärkten in Italien, geht Luigi Lorenzetti nach. Die Geschichte der Söldner aus dem Wallis will Louiselle Gally-de Riedmatt an die Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums anbinden. Güterströme im Transithandel sind Gegenstand der Beiträge von Cinzia Lorandini und Mark Häberlein, letzterer am Beispiel des Handelshäuser Vöhlin und Welser und der Waren Safran, Kupfer und Tuch. Eine Ökonomie der Grenze und des Risikos beim Schmuggel entwirft Anne Montenach. Philipp R. Roesner rekapituliert den Forschungsstand zum Tiroler Montanrevier und skizziert den Vergleich mit dem Erzgebirge. Mechthild Isenmann will das Verhältnis von Ethik und Ökonomie am Beispiel Monopol und Fürkauf und dazu Prozesse im Alpen- und Voralpenraum untersuchen.
So eindrucksvoll dieser Vorlauf auf den ersten Blick auch aussieht, so kann der Rezensent nicht erkennen, wie die angestrebte Synthese für den Raum zwischen Savoyen und Slowenien (4) gelingen kann. Jeder der Autoren und Autorinnen dieses Bandes nähert sich seinem/ihrem Thema von einem individuellen regionalen Schwerpunkt aus. Unter solchen Umständen den "Versuch einer ökonomischen Historie totale des Alpes" (Denzel, 19) gegen den "bisherigen Regionalismus" zu unternehmen, erscheint gewagt und mutig. Und dies umso mehr, da forschungsstrategisch nicht wenige Fragen offenbleiben. Schwerpunkte auf Handel, Austausch und Migration zu setzen, erscheint plausibel. Doch das Kapital als entscheidende Kraft zu beschwören, wie es Denzel tut, lässt schon Reith vor der "Gefahr" warnen, "die aktiven Kräfte neben Verlegern und Unternehmern zu übersehen" (148). Schließlich gruben die Unternehmer nicht selbst nach Erz. Und Braudel und Bergier in Ehren - die Forschung zum Kapitalismus ist weitergegangen. Eine Auseinandersetzung mit der seit 2010 vermehrt erschienenen Literatur findet in diesem Band nicht statt. Auch gab es nach Ausweis der Beiträge dieses Bandes keinen spatial turn. Selbst wenn dieser Turn wieder abklingt, so hat er produktive Fragen auch für die Alpenregion aufgeworfen. Leitthemen könnten die Beziehungen zwischen den Alpen und dem Vorland sowie die Bewältigung der schwierigen Umweltbedingungen sein. Ansätze sind im Band reichlich vorhanden. Die andere Grundkategorie Zeit bleibt vage. "Vorindustrielles Wirtschaften" bezieht sich vor allem auf das Spätere Mittelalter und die Frühe Neuzeit, auch wenn Denzel in der Römerzeit startet. Das Gesamtthema seit der Antike diachron zu behandeln, macht durchaus Sinn, wenngleich damit noch mehr Syntheseleistungen abverlangt werden.
Dem geplanten Gesamtwerk täte gut, wenn Fragen nach der Bedeutung der vorindustriellen Wirtschaft für das 19./20. Jahrhundert, also nach der regionalen Vorgeschichte der Industrialisierung nach dem Vorbild von Sidney Pollard, gestellt werden. Weil die Messlatte selbstgewählt hoch liegt und weil, dies sei ausdrücklich anerkannt, in frühem Stadium des Projekts die Maßstäbe offengelegt wurden, darf das Publikum auf die tatsächliche Realisierung gespannt sein.
Wilfried Reininghaus