Giulia Brogini Künzi: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 23), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 375 S., ISBN 978-3-506-72923-1, EUR 44,90
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Es ist noch nicht lange her, dass Mussolinis Krieg gegen Abessinien 1935/36 nur eine Fußnote der Geschichte des italienischen Faschismus war. Historiker und Journalisten, die sich des Themas annahmen, hatten es schwer, Gehör und Anerkennung für ihre These zu finden, dass am Horn von Afrika Schreckliches vor sich gegangen, ja dass dort ein Krieg geführt worden war, der in Ansätzen vieles von dem vorweg nahm, was dann im Zweiten Weltkrieg zur vollen Entfaltung gelangte. Mittlerweile ist der Krieg in Abessinien zu einem viel beackerten Forschungsfeld geworden: Die Brutalität der faschistischen Kriegführung wird nicht mehr bestritten, sogar die Tatsache, dass Italien Giftgas einsetzte, wird allgemein anerkannt. Im deutschsprachigen Raum hat sich in diesem Zusammenhang vor allem der in Luzern lehrende Historiker Aram Mattioli große Verdienste erworben. In Aufsätzen, einer Monografie und einem Sammelband hat er den "ersten faschistischen Vernichtungskrieg" in das Bewusstsein von Zunft und Öffentlichkeit gehoben. [1] "In globaler Perspektive", so Mattioli, "bildet der Abessinienkrieg die 'Brücke' zwischen den Kolonialkriegen des imperialistischen Zeitalters und Hitlers Lebensraumkrieg, der auf die Schaffung eines von germanischen 'Herrenmenschen' dominierten und von 'minderwertigen Völkern' gereinigten Kontinentalimperiums zwischen Atlantik und Ural zielte. Was Mussolinis Legionäre in Ostafrika erprobten, setzten Hitlers Weltanschauungssoldaten im Osten Europas ein paar Jahre später mit radikalisierter ideologischer Energie, effizienterer Organisation und mit technologisch noch einmal potenzierten Gewaltmitteln im großen Stile fort." [2]
Giulia Brogini Künzi kann also mit ihrer Dissertation über "Italien und der Abessinienkrieg 1935/36" auf einem differenzierten und konsolidierten Forschungsstand aufbauen. Die Studie ist - ohne Vorwort, Schluss, Quellen- und Literaturverzeichnis - in vier große Teile gegliedert. Der Erste besteht aus der Einleitung, der Zweite ist mit "Italien und die Zwischenkriegszeit" überschrieben, während der Dritte dem italienischen Imperialismus gewidmet ist. Erst im vierten Teil - d. h. nach sage und schreibe 213 Seiten - kommt die Autorin zur Sache, die dann auf gut 100 Seiten abgehandelt wird.
Dass in den Teilen 1 bis 3 wenig Neues geboten wird, versteht sich fast von selbst; hier ist die Thematik einfach zu breit, als dass mehr als Zusammenfassungen der Forschungsliteratur geboten werden könnten. Brogini Künzi tut das in der Regel mit großem Sachverstand, wenn auch mitunter mit sprachlichen Mitteln, die dem Leser manchen Kummer bereiten; schon der Titel des Buches verrät diese eklatante Schwäche, weil er den Eindruck erweckt, Italien sei am Krieg in Afrika gar nicht richtig beteiligt gewesen, sondern habe nur in irgend einer Beziehung zu ihm gestanden.
Im vierten Teil, dem Kernstück der Dissertation, muss man nicht zuletzt deshalb mehr erwarten, weil die große Frage: Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? aufgeworfen wird. Brogini Künzi erweist sich auch hier als gute Sachkennerin, die etwa mit Blick auf die logistischen Probleme der Italiener im unwegsamen Bergland Abessiniens, den Aufbau der Zensurbehörden, die mangelnde Koordination der Invasionstruppen und die Feindbilder der italienischen Soldaten manches zu berichten weiß, was auch den Fachleuten unbekannt sein dürfte. Dafür bleibt aber der Krieg selbst, den sie im Übrigen ohne genaue Begründung als totalen Krieg bezeichnet, merkwürdig blass. Die Kämpfe an der Front, die Behandlung der Kriegsgefangenen und die Repressalien im Besatzungsgebiet, kurz: Schrecken und Grauen des Krieges werden nicht plastisch genug, und auch die Kriegserfahrungen der äthiopischen Soldaten und der Zivilbevölkerung gewinnen keine Kontur; zumal Letztere nur als statistische Größe erscheint. Hier rächt sich, dass die Autorin nicht nur die italienischen Quellen nicht ausgeschöpft, sondern britische, amerikanische und vor allem äthiopische Dokumente und Berichte außer Acht gelassen hat. Die Opfer kommen so gut wie nicht vor, was vor allem deshalb verwundern muss, weil sie nach Hunderttausenden zählten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise Aram Mattioli: Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935-1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), 311 - 337; ders.: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca, Zürich 2005; s. hierzu die Rezension von Malte König, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/05/ 10392.html; Asfa-Wossen Asserate / Aram Mattioli (Hg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935-1941, Köln 2006.
[2] Aram Mattioli: Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche, in: Asfa-Wossen Asserate / Aram Mattioli (Hg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935-1941, Köln 2006, 24 f.
Hans Woller