Hans-Ulrich Nuber / Heiko Steuer / Thomas Zotz (Hgg.): Der Südwesten im 8. Jahrhundert aus historischer und archäologischer Sicht (= Archäologie und Geschichte; Bd. 13), Ostfildern: Thorbecke 2004, 365 S., ISBN 978-3-7995-7363-4, EUR 54,00
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Der 1984 gegründete Forschungsverbund der Universität Freiburg im Breisgau, in dem sich Vertreter der Disziplinen Provinzialrömische Archäologie, Frühgeschichtliche Archäologie und Mittelalterliche Landesgeschichte zur Erforschung von "entscheidenden Nahtstellen und Umbruchphasen in der Geschichte des deutschen Südwestens" (7) zusammenfinden, widmet diesen Band dem 8. Jahrhundert. Unter Südwesten wird geografisch das Dreiländereck am Hochrhein mit der nördlichen Schweiz, dem Elsaß und Südwestdeutschland verstanden, womit zum guten Teil das Siedlungsgebiet der Alemannen umschrieben ist. Ein Drittel des Bandes nimmt den ganzen Raum in den Blick, während sich die Einzelstudien im zweiten Teil des sorgfältig ausgestatteten und mit einem Personen- und Ortsregister erschließbaren Buchs schwerpunktmäßig, aber keineswegs ausschließlich mit dem Breisgau beschäftigen. Die Beiträge wurden für ein 1994 veranstaltetes Kolloquium geschrieben, sind allerdings überwiegend auf den Forschungsstand von 2003 gebracht oder zumindest mit dem Hinweis auf nachträglich erschienene Literatur versehen worden.
War das 8. Jahrhundert tatsächlich eine entscheidende Umbruchsphase in diesem alemannischen Raum? Die Antworten auf diese Frage fallen erfreulich differenziert aus, sodass sich nach der Lektüre des gesamten Buches ein vielschichtiger und für vergleichende Studien zu anderen Regionen geeigneter Erkenntnisstand herausbildet. Aus politischer Sicht ist diese Frage sehr eindeutig zu bejahen, da die Aufrichtung der karolingischen Herrschaft zu erheblichen Umwälzungen und zur Beseitigung alemannischer Herzöge führte. Thomas Zotz bemisst dabei zu Recht der Hausmeierzeit Karl Martells eine größere Bedeutung für die politische Raumordnung zu als dem formellen Dynastiewechsel von 751. Die Umbenennung dieser Region von Schwaben in Alemannien - berichtet zu 741, im Zusammenhang mit einer Herrschaftsteilung auf der Ebene des Hausmeiertums, die wohl 737 beschlossen wurde - ist daher fast als symbolischer Akt für deren Neuorganisation zu werten. Durch die machtpolitischen Entwicklungen scheint das Rechtsleben für diejenigen, die nach alemannischem Recht lebten, wenig betroffen worden zu sein. Pactus und Lex Alamannorum entstanden noch während der Merowingerherrschaft, die Letztere wohl in einer Phase der Opposition gegen die Pippiniden-Karolinger, und stützten sich selbst in den meisten Bestimmungen, die auf spätere Einfügungen aus dem Kirchenrecht zurückzuführen sind, auf Kanones von merowingerzeitlichen Konzilien. Gerade diese kirchenrechtlichen Kapitel verdeutlichen, dass die Lex Alamannorum von christlichen Richtern in der Praxis angewendet werden sollte, wie Wilfried Hartmann in überzeugender Argumentation gegen Clausdieter Schotts These vom mangelnden Praxisbezug des Gesetzes darlegt. Die meisten Abschriften dieses Gesetzes stammen aus dem 9. Jahrhundert, sodass auch von daher die Annahme gestützt wird, dass eine kontinuierliche Fortsetzung des Rechtlebens für alle, sich zum alemannischen Recht bekennenden Personen möglich war. Die Aufrichtung der karolingischen Herrschaft bewirkte keinen Wandel. Erst der Untergang des ostfränkischen Reichs bedeutete zumindest für das Interesse an der Reproduktion von Rechtsabschriften einen Einschnitt, da vom 10. bis zum 12. Jahrhundert nur noch wenige Handschriften in Alemannien selbst bezeugt sind.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist die gestellte Frage wiederum überwiegend gut zu bejahen. Werner Rösener kann für den bedeutenden adeligen Grundbesitz der Beata, der zwischen 741 und 745 am und rund um den Zürichsee bezeugt ist, bereits die agrarorganisatorischen Veränderungen zur Fronhofverfassung nachweisen. Diese Innovation trat auch andernorts im Frankenreich im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts auf, sodass bei diesem frühen Zeugnis der Einfluss der neuen karolingischen Machthaber zwar nicht klar ersichtlich ist, doch war das 8. Jahrhundert für Alemannien bezüglich der Einführung der bipartiten Villikation zweifellos eine Umbruchsphase, die von klösterlichen und königlichen Grundherrschaften einen besonderen Schub seit der karolingischen Herrschaft erfuhr. Während sich die agrarorganisatorischen Neuerungen positiv auf die landwirtschaftliche Produktivität auswirkten, kam der geldgestützte Handel im rechtsrheinischen inneralemannischen Raum im Rückschluss aus den fehlenden Münzfunden nahezu völlig zum Erliegen. Die Umwälzungen fanden in diesem Wirtschaftssektor allerdings schon vor der Mitte des 7. Jahrhunderts statt und hingen mit der Reduktion der Goldreserven zusammen (Karl-Josef Gilles), einem Globalisierungsproblem des Frühmittelalters, wenn man es mit modernen Wirtschaftsentwicklungen vergleichen will. Keramikproduktion und -handel änderten sich in Alemannien allerdings nachweislich durch den Einfluss und die Handelsbeziehungen fränkischer Grundherren weltlicher und klösterlicher Provenienz nach der Integration dieser Region in das karolingische Frankenreich, wodurch alemannische Produktionsstätten und Produkte verdrängt wurden (Uwe Groß). Die Eisenverhüttung erweist sich hingegen als völlig unbeeinflusst durch die jeweiligen Machthaber und zeichnet sich durch eine kontinuierliche Produktion und einen relativ einheitlichen Typus zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert aus (Martin Kempa). Der Erwerb von Orten mit Eisenvorkommen war gemäß Alfons Zettler denn auch eher eine Antriebsfeder für fremde Grundherren, insbesondere für das Kloster Lorsch, sich im Breisgau zu engagieren, als das Ziel der politischen Durchdringung dieser Region im Auftrag der Karolinger. Lediglich für den Besitzerwerb der westfränkischen Klöster Saint-Denis bei Paris und Saint-Martin von Tours könne man eine politische Motivation vermuten; für Sankt Gallen stand jedoch vielleicht mehr der hochspezialisierte Weinanbau im Vordergrund der Grunderwerbspolitik in diesem Raum.
Die Rekonstruktion der ländlichen Gesellschaft anhand archäologischer Zeugnisse ist dank verstärkter Grabungstätigkeit und vergleichender Forschung auch für Alemannien in gewissem Rahmen möglich. Wie andernorts hört auch hier die pagane Sitte der Reihengräberbestattung mit Grabbeilagen um etwa 700 (zwischen 680 bis 720) auf und weicht dem christlichen Brauch, bei der Ortskirche ohne Grabbeilagen zu bestatten. Inzwischen kann jedoch das differenzierte Bild gezeichnet werden von Christen, die entgegen der Regel in Reihengräbern bestattet wurden, und von zum Teil sehr repräsentativen Familiensepulturen an der Peripherie bestehender oder neu errichteter Höfe statt in Kirchennähe, die nach wie vor Grabbeilagen aufweisen. Ob im letztgenannten Verhalten der Widerstand einflussreicher Geschlechter gegen die Franken oder gegen das Christentum oder gegen eine straffere kirchliche Organisation zu sehen ist, muss offen bleiben (Gerhard Fingerlin). Jedenfalls stellt das 8. Jahrhundert insofern eine Umwälzung dar, als sich in seiner zweiten Hälfte keine Gräber mehr bei Hofanlagen befinden. Heiko Steuer sieht in diesen aristokratischen "Separatfriedhöfen" oder auch in den "Sondergruppen auf den Gräberfeldern" (201) die bewusste Absonderungstendenz sowohl von hinzugezogenen als auch von schon länger am Ort lebenden Familien. Es sei ein vom Christentum unabhängig sich entwickelndes Phänomen gewesen. Steuer interpretiert es vielmehr als Anzeichen eines grundlegenden sozialen Wandels, in dessen Verlauf sich die bestehende ranggestaffelte, aber grundsätzlich offene zu einer nach sozialen Gruppen ausgegliederten Gesellschaft vollzog. Obwohl die archäologischen Funde auf das 7. Jahrhundert datiert werden, macht er für diesen Wandel die Politik der Pippiniden-Karolinger verantwortlich, namentlich die Einführung der Grundherrschaft und des Lehnwesens. Da die Grundherrschaft, die damals noch in den allerersten Anfängen steckte, wohl nicht bis Alemannien vorgedrungen war - jedenfalls mangelt es an Quellenzeugnissen für eine solche Annahme - und das Lehnwesen, wie die neuere historische Forschung mittlerweile weiß, noch nicht existierte, wird man die Interpretation der Familiensepulturen bei Gehöften im Sinne einer sich ständisch abschließenden Gesellschaft vorsichtiger angehen müssen. Die Zuweisung einer dominanten Rolle an die Pippiniden bedarf gleichfalls des Überdenkens, da die Funddatierungen offenbar in die Zeit der politischen Anarchie seit etwa 680 fallen, als die Pippiniden mit dem Aufbau ihrer Machtstellung zwar begannen, aber keineswegs konkurrenzlos waren, außerdem noch etliche Rückschläge hinnehmen mussten und ihr Augenmerk noch nicht genauer auf das rechtsrheinische Alemannien richteten. Lokale Untersuchungen mögen hierbei zu gesicherten Aussagen kommen. So meint Ingo Stork, in Lauchheim "Mittelhofen" gehörten die Bestattungsplätze bei Gehöften christlich-alemannischen Familien, die oppositionell der fränkischen Kirchenpolitik gegenüberstanden. Dieses Phänomen ist dort nur bis 704 nachweisbar und wird somit - Zufall oder Kausalität? - zeitgleich mit dem Beginn der von Pippiniden getragenen Alemannenkriege unterbrochen.
Der insgesamt fruchtbringende interdisziplinäre Ansatz dieses sehr zu empfehlenden Buches weist noch weitere Beiträge zur Siedlungsgeschichte, zur Siedlungsnamenforschung und zur Kirchengeschichte auf, aus denen noch weitere Gründe ersichtlich werden, das 8. Jahrhundert als eine Umbruchsphase zu bezeichnen. Damals wurden beispielsweise die traditionellen Siedlungsräume im Altsiedelland zugunsten von neuen Erschließungen im Schwarzwald überschritten. Könnte man jedoch nicht auch das 7. Jahrhundert als eine einschneidende Phase in Bezug auf das Erkenntnisinteresse dieses Forschungszweiges bezeichnen, als im Untersuchungsraum römische Siedlungen wiederbesiedelt wurden?
Brigitte Kasten