Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte; Bd. 11), München: Oldenbourg 2004, 349 S., ISBN 978-3-486-56828-8, EUR 34,80
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Die gründlich erarbeitete, gut geschriebene und bestens dokumentierte Augsburger Dissertation geht davon aus, dass Familienprobleme und Bevölkerungspolitik in Folge des Ersten Weltkrieges und der durch ihn ausgelösten sozialen Verwerfungen seit 1918/19 in Deutschland als wichtiger begriffen wurden denn je. Als erste europäische Verfassung hat die Weimarer Reichsverfassung den Schutz der Familie verbürgt. Die Verfasserin analysiert zunächst Entstehung und Inhalt der entsprechenden Artikel 119-121, die in einem Kompromiss zwischen SPD, Zentrum und DDP ausgehandelt wurden. Damit sind bereits die drei Parteien vorgestellt, die familienpolitisch besonders aktiv geworden sind, wobei die meisten Initiativen von den Katholiken und den Sozialdemokraten kamen. Nicht nur die Linke, sondern ebenso die politische Mitte hat sich für soziale Reformen eingesetzt; nur die Rechte wollte im Allgemeinen am vorrepublikanischen Patriarchalismus festhalten und öffnete sich dann seit 1929/30 volkstumspolitischen Ansätzen. Die weiteren Kapitel sind folgenden Themen gewidmet: Dem katholischen und dem sozialdemokratischen Familienbegriff (Bankrott der bürgerlichen Familie?), dem staatlichen Zugriff auf die Familie sowie dem bevölkerungspolitischen Diskurs.
Die Konzentration auf Zentrum und SPD erweist sich auch deshalb als richtig, weil beide Parteien auch über ihre starken, hier mitbehandelten Subsidiärorganisationen für die Realisierung ihrer Konzepte wirken konnten. Das Zentrum und ebenso die Bayerische Volkspartei argumentierten in familienpolitischen Fragen mit dem im Katholizismus seit dem späten 19. Jahrhundert neu erstarkten Naturrechtsdenken. Dieses definierte - gegen den liberalen Individualismus - den Menschen als Gesellschaftswesen und die Familie als natürliche, autonome Institution, die vom Staat zu respektieren und zu schützen sei.
Der Sozialismus hatte zunächst die bürgerliche Familie als Garantin der bestehenden Gesellschaftsordnung abgelehnt. Aber dann sind auch von der SPD wichtige Initiativen zur Stärkung der Familien, besonders der Arbeiterfamilien, ausgegangen, zugleich freilich auch schon zur Durchsetzung eines neuen, auf Gleichberechtigung beruhenden Ehe- und Beziehungsideals sowie zur Liberalisierung des Scheidungsrechts, die das Zentrum ablehnte. Für die Gleichberechtigung nicht-ehelicher Kinder wirkten die Sozialdemokraten konsequenter als die Katholiken; Heinemann weist nach, dass der dennoch mögliche Kompromiss an der parlamentarischen Krise seit 1930 gescheitert ist.
Die gleichzeitige Wirtschaftskrise hat auch die bevölkerungspolitischen Diskurse verschärft. Prominente Bevölkerungspolitiker wie Friedrich Burgdörfer rückten nun mit dem Postulat generativer Unsterblichkeit des "Volkskörpers" heraus. Aber die katholischen und die sozialdemokratischen Familienpolitiker, auch bereits (die von beiden Parteien in die Parlamente entsandten) Politikerinnen, die Heinemann ebenso gut würdigt wie die ihr Handeln begleitenden Publizisten, blieben bei ihren humaneren Konzepten, an die CDU und SPD 1945 anknüpfen konnten. Zu den Vorzügen des Buches gehört auch die unvoreingenommene Diskussion eugenischer Ansätze, von denen die maßvolleren mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatten.
Rudolf Lill