Alexander Haridi: Das Paradigma der "islamischen Zivilisation" - oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876-1933) (= Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt; Bd. 19), Würzburg: Ergon 2005, 204 S., ISBN 978-3-89913-445-2, EUR 34,00
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Zentraler Gegenstand dieses Buches ist der deutsche Orientalist Carl Heinrich Becker, der gemeinhin als "Gründer" einer Islamwissenschaft gilt, die sich nicht mehr allein auf philologisches Arbeiten konzentriert, sondern ganz bewusst die Beschäftigung mit den zeitgenössischen islamisch geprägten Ländern in den Vordergrund stellt. Dabei ist Becker nicht nur ein anerkannter Gelehrter, sondern auch ein einflussreicher Politiker gewesen. Ab 1895 studierte er in Lausanne und Heidelberg Theologie und orientalische Sprachen (1899 Promotion, 1901 Habilitation). 1908 berief man ihn auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients am Hamburger Kolonialinstitut. 1913 wechselte Becker an die Bonner Universität, drei Jahre später nach Berlin. Dort wirkte er aber nicht nur als Professor, sondern er nahm auch den Posten eines Personalreferenten für die Universitäten in der preußischen Kultusbehörde an. In dieser Funktion verfasste er die einflussreiche Denkschrift über den künftigen Ausbau der Auslandsstudien an den preußischen Universitäten. Seit 1919 fungierte der parteilose Becker dann in dem Ministerium als Unterstaatssekretär und ab 1921 als Staatssekretär. Nachdem er vom 21. April 1921 bis zum 7. November 1921 bereits einmal zum Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ernannt worden war, übte er dieses Amt schließlich von 1925 bis 1930 ununterbrochen aus.
Da zu Beckers Biographie bereits einige sehr gute Arbeiten vorliegen [1], konzentriert sich Alexander Haridi in seiner Studie auch nicht auf die Nachzeichnung seines Lebensweges. Vielmehr setzt er inhaltliche Schwerpunkte. Im ersten Teil seiner Arbeit zeigt Haridi anhand der Beckerschen Arbeiten, dass man den Kulturpolitiker durchaus zu Recht als ersten Islamwissenschaftler bezeichnen kann. Becker schaffte es, die orientalische Philologie um kultur- und religionsgeschichtliche sowie um soziologische Ansätze zu erweitern und dadurch von dem Primat der Theologie und der Religion zu emanzipieren. Da er den Islam nicht mehr allein als Religion, sondern als lebendige Kultur auffasste, zu deren Analyse es soziologischer und wirtschaftlicher Fragestellungen bedurfte, sprengte er die strikt philologisch definierten Fachgrenzen der traditionellen Orientalistik des 19. Jahrhunderts. Die Beschäftigung mit dem Islam der Gegenwart wurde durch ihn gesellschaftlich akzeptiert, die Orientalistik wandelte sich zur Islamwissenschaft. Becker konnte gegenüber der interessierten Öffentlichkeit und den skeptischen Fachgelehrten begründen, dass diese neue Disziplin ein eigenes Forschungsobjekt zum Gegenstand hat: das Modell einer flexiblen "Zivilisation Islam", in der Kultur, Gesellschaft und Geschichte stark von der Religion geprägt seien.
Allerdings basiert, so belegt Haridi überzeugend, Beckers Vorstellung von islamischen Gemeinwesen als nicht der Erstarrung anheimgefallenen, sondern veränderbaren Ordnungen auf einer im Saidschen Sinne orientalistischen Zuschreibung des Untersuchungsgegenstandes: als kultureller Überbau sei der Islam zwar wandlungsfähig, doch verharre der Muslim in seiner Eigenschaft als Orientale langfristig in Lethargie, gedanklicher Bewegungslosigkeit und Unfreiheit. Im Gegensatz zum modernen Europa, so Becker, habe der Orient nämlich nie die "Ketten des Hellenismus" sprengen können. In einem 1922 veröffentlichten Aufsatz, dessen Diktion durchaus zeittypisch ist, bringt Becker diese zweifelhafte und anfechtbare Prämisse auf den Punkt:
"Im Abendland lebt die Antike nicht nur weiter wie im Islam, nein, sie wird dort neu geboren. Und mit ihr wird der vom Orientalen grundsätzlich verschiedene Mensch geboren. Der Unterschied liegt in seiner vollkommen anderen Auffassung von Mensch und Menschentum: Es wird von der Antike nicht nur die Form, sondern das Wesen der antiken Einstellung zu Mensch und Leben entdeckt. Das Entscheidende war der vorangegangene innere Bruch mit der Antike durch das Christentum. Dann wurde sie neu belebt, und zwar nicht vom rassefremden Intellekt, sondern vom verwandten Blut. [...] An den Lebenswillen der besten Zeit der Antike knüpfte der von mittelalterlicher Gebundenheit sich lösende Lebenswille des erwachenden Europa unmittelbar an." [2]
Was Becker betrieben habe, so Haridi, könne nicht als "Kulturgeschichte" beschrieben werden. Es handele sich vielmehr um "Geschichtsphilosophie mit metaphysischem Gehalt" (10). Becker zufolge sei der Islam eine historisch gewachsene Zivilisation, die orientalische wie christlich-jüdische Einflüsse in sich aufgenommen habe. Während die antiken Elemente im Islam konserviert worden seien, habe das Abendland mit der mittelalterlichen Rezeption der Antike gebrochen, um diese dann wieder neu zu entdecken. Dieser Vorgang sei die Voraussetzung für die Ausbildung des Humanismus in Europa, eine epochemachende philosophische Neuerung. Das große unterscheidende Erlebnis sei nach Becker eben der Humanismus, und genau diesen Entwicklungsschritt sei der Islam nicht gegangen und könne ihn auch nicht gehen. Zu keinem Zeitpunkt habe man mit der antiken Überlieferung gebrochen, so dass das alte Griechenland auch nicht wieder entdeckt werden konnte.
Im nun folgenden zweiten Teil seiner Abhandlung befasst sich Haridi vor allem mit dem Einfluss von Ernst Troeltsch und Max Weber auf Becker. Alle drei standen miteinander in regem Kontakt. Sie diskutierten und prägten die im deutschen geschichtswissenschaftlichen und philosophischen Diskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wichtigsten Termini: "Volksgeist", "Individualität", "Humanismus", "Kultur", " Zivilisation", "Hellenismus" und "Synthese". Durch die Gegenüberstellung der universalgeschichtlichen Konzepte dieser drei Gelehrten gelingt es Haridi sehr gut, die Abhängigkeit, aber auch die Besonderheit der weltgeschichtlichen Vorstellungen von Becker herauszustellen. War für Troeltsch das Ziel einer Universalgeschichte die Ermittlung von objektiven Kulturwerten aus dem begrenzten Sinnzusammenhang eines Kulturkreises, so wollte Weber genau das Gegenteil. Ihm ging es um die Herausarbeitung universaler, kulturübergreifender Typologien, wobei seine Ausgangsfrage bekanntermaßen war: "Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch - wie wenigstens wir uns gerne vorstellen - in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?" [3] Becker griff den Weberschen Ansatz auf, indem er ebenfalls fragt: "Für unseren Gedanken ist die entscheidende Frage: Warum ist es nur im Abendland zu einer solchen Entwicklung gekommen?" [4] Beide wollten also die Besonderheiten der europäischen Moderne herausarbeiten, doch gibt es einen ganz gewichtigen Unterschied: Becker suchte wie Troeltsch nach objektiven Werten, was Webers Absichten fundamental widerspricht. Haridi zeigt, dass für Becker der Humanismus nicht der Idealtypus, sondern das Ideal war, auf das hin er Kulturgeschehen ordnete. Durchweg betrachte er Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkt, inwieweit das (idealisierte) Griechentum "richtig" assimiliert worden sei. Dabei entwickelte Becker in Auseinandersetzung mit Troeltsch, für den Europa und die islamische Welt zwei völlig getrennte "Kulturkreise" darstellten, die Theorie vom gemeinsamen islamisch-christlichen Kulturkreis, dessen einigendes Band die geteilte Erfahrung des Hellenismus sei.
Den dritten und letzten Abschnitt widmet Haridi der Rezeption Beckers. Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren universalgeschichtliche Erklärungsmodelle deutlich an Überzeugungskraft, doch fand Beckers Verdienst einer Erneuerung der orientalischen Philologie weithin Anerkennung. Er, so die Meinung vieler, habe die moderne Islamforschung begründet, indem er soziologische Leitfragen und ein umfassendes Theoriemodell formulierte und sich gegen den damaligen Zeitgeist für die Vorstellung von einem wandlungsfähigen Islam engagierte.
Am Ende dieser insgesamt sehr gelungenen und hochinteressanten Studie weist Haridi darauf hin, dass die Frage nach den Bedingungen einer Modernisierung der islamischen Welt heute aktueller denn je sei. Becker habe, so Haridi, diese Frage zu Beginn des letzten Jahrhunderts vorweggenommen, wobei seine Antwort lautete: Fortschritt sei nur durch Säkularisierung und die Übernahme des westlichen Modells der Modernität möglich. Dieser Sicht mag man sich angesichts der durch die Auswirkungen der Globalisierung bedingten fortschreitenden Verunsicherungen und Unübersichtlichkeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr vorbehaltlos anschließen. Das Problem einer besseren Adaption der Länder in der islamischen Welt an die sich in raschem Tempo verändernden globalen Deutungsmuster und Gesamtzusammenhänge bleibt natürlich bestehen. Mittlerweile gilt dies jedoch für alle Nationalstaaten, auch für die europäischen.
Anmerkungen:
[1] Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. C. H. Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln 1991; Erich Wende: C. H. Becker. Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959; Josef van Ess: From Wellhausen to Becker. The Emergence of " Kulturgeschichte" in Islamic Studies, in: Levi della Vida Conferences VII: Islamic Studies: A Tradition and its Problems, hg. von Malcom H. Kerr, Los Angeles 1979, 27-51; Marc Batunsky: Carl Heinrich Becker: From Old to Modern Islamology, in: IJMES 13 (1981), 287-310; Peter Heine: C. Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik, in: Die Welt des Islam 23/24 (1984), 378-387; Cornelia Essner/Gerd Winkelhane: Carl Heinrich Becker (1876-1933) - Orientalist und Kulturpolitiker, in: Die Welt des Islam 28 (1988), S. 154-177.
[2] Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, in: ZDMG 76 (1922), 18-35, das Zitat 29-30 (bei Haridi 27).
[3] Max Weber: Vorbemerkung zur Religionssoziologie, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1920, 1-16, hier 1 (bei Haridi nicht ganz korrekt 110).
[4] Carl Heinrich Becker: Das Erbe der Antike in Orient und Okzident. Leipzig 1931, 125 (bei Haridi 110).
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Stephan Conermann