Colin Trodd / Stephanie Brown (eds.): Representations of G. F. Watts. Art Making in Victorian Culture (= British Art and Visual Culture since 1750. New Readings), Aldershot: Ashgate 2004, 256 S., 8 Farb-, 39 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-0598-0, GBP 55,00
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George Frederick Watts (1817-1904) gilt als ein mit Sendebewusstsein ausgestatteter Vertreter einer englischen Variante des "Symbolismus" und als Porträtist bedeutender Viktorianer, ein Aspekt, an den die National Portrait Gallery London dieses Jahr mit einer Ausstellung erinnert. Watts strebte - nachdem er in Zusammenhang mit den Wettbewerben zur Ausstattung der neu erbauten Houses of Parliaments mit historisch-didaktischen Zyklen einen Preis gewonnen hatte - nach der Verwirklichung umfangreicher Wandbildserien in öffentlichen Gebäuden, und sein Werk ist durch die allegorische Darstellung allgemein menschlicher Zustände gekennzeichnet. Die didaktisch-moralischen Ansätze seines Werks und die Vermittlung der Inhalte durch figurenbestimmte, konzentrierte Kompositionen mögen es bisher einer umfassenderen Würdigung entzogen haben.
Watts war zwar nach einer Einzelausstellung in der Whitechapel Art Gallery von 1974 prominent in den Ausstellungen "Victorian High Renaissance" (Minneapolis Institute of Art und anderen Orts, 1978) und "The Art of Rossetti, Burne-Jones & Watts. Symbolism in Britain 1860-1910" (Tate Gallery London 1997) vertreten, doch wurde ihm noch keine umfassende "Wiederentdeckung" zuteil wie den Präraffaeliten, Leighton und dem John Everett Millais der Royal Academy-Jahre.
Fokussierte die Ausstellung von 1978 darauf, Watts' klassizistische Elemente in ihrem viktorianischen Kontext aufzuzeigen und seine Anregungen durch italienische Renaissance-Künstler, besonders durch Michelangelo, zu erörtern, so war es das Anliegen der zweiten Ausstellung, die "symbolistischen" Tendenzen seines Werkes gegenüber jüngeren Künstlern gerade der zweiten Generation der Präraffaeliten weitgehend themenorientiert darzustellen. Barbara Bryant konzentrierte sich in ihrem Katalogbeitrag auf die Rezeption und Wirkung des Werkes Watts' und erklärte dadurch seine Zuordnung zu den "Symbolisten", denen er als eine Art Vaterfigur voranging. Die rezeptionsgeschichtlich bedingte Einbeziehung Watts' zu den "Symbolisten" wird in dem vorliegenden Aufsatzband zu Gunsten einer intensiven Beschäftigung mit dem Werk selbst zurückgestellt.
Angesichts der bescheidenen Literaturlage ist es Colin Trodd, Stephanie Brown und ihren Autoren hoch anzurechnen, mit ihrem Aufsatzband verschiedene Aspekte des Werkes und der Person des eher vernachlässigten Künstlers vorzustellen und damit zu einer kunstgeschichtlichen Diskussion einzuladen. Lobenswert ist der breite Ansatz der neun Beiträge, die aufgegliedert in "Wattsian Body" und "Wattsian Space" den verschiedenen Bereichen und Themen von Watts' Œuvre unter durchweg neueren Forschungsansätzen gewidmet sind. Hierdurch liefert das Buch für die Geschichte der viktorianischen Kunst und ihrer Institutionen wichtige Anregungen. Trodd und Brown definieren es als ihr Ziel, Watts in den Kontext der viktorianischen Kultur einzubinden und dadurch einen Neuansatz zum Verständnis seines Werkes zu geben (12). Sie formulieren das Anliegen, weniger Watts einen Platz im viktorianischen "Olymp" zu sichern, als ihn vielmehr als Anlass und Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Betrachtungsweisen für die viktorianische Kunst und ihrer Strukturen zu nutzen (23).
Durch den Vergleich mit Leighton zeigen sie auf, dass die Gründe für das Missverständnis der Watts'schen Kunst hauptsächlich in dem als misslungen erachteten Verhältnis von Form und Inhalt zu sehen sind. Demgegenüber skizzieren sie Watts' eigene Grundideen von Kunst und Schöpfertum und die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien - Energie, Entwicklung, Erfahrung und Vitalität - und deuten an, dass die späteren Werke eigentlich gerade als Entsprechung von Form und Idee gelten müssen (20-22).
Paul Barlow greift die umfassende Zielsetzung der Herausgeber in der Beschäftigung mit Watts' "House of Life"-Projekt auf und versucht, den Zusammenhang dieser Werkgruppe mit anderen Arbeiten des Künstlers darzulegen, sodass das Gesamtœuvre als Umsetzung einer Grundidee unter unterschiedlicher Schwerpunktsetzung erscheint. Er arbeitet heraus, dass gerade das Fragmentarische und in der Entstehung Begriffene ein Kennzeichen des Werks bildet und seine Grundidee zugleich verkörpert, geht es doch um den Zusammenhang von "consciousness" und "experience", von Intellekt, Moral und Ästhetik (36). Barlow verankert Watts im Zeitkontext, indem er seine Ansätze mit denjenigen von Browning und Rossetti, mit Wagners "Gesamtkunstwerk", mit zeitphilosophischen und theosophischen Ideen verbindet. Der Künstler erscheint als ein semi-religiös Erleuchteter, der die gewonnenen Erkenntnisse an ein Publikum durch Formen vermittelt, die sich partiell an die traditionelle Ikonographie anzuschließen scheinen. Letztlich erweist sich die Genese der Serie und des darin unabhängigen Einzelbildes, das innerhalb der Serie in verschiedene Zusammenhänge eingestellt werden kann, als eine "fragmentary totality" (44), als eine unrealisierbare Verbindung von "visual pleasure and conceptualized message" (43), denn die zunehmende Erkenntnis des Künstlers bedingt, dass das Projekt niemals beendet werden kann, sondern sein Gehalt ständig vertieft und erweitert werden muss.
Prettejohn und Trodd greifen die bei Barlow erwähnten Aspekte der Sonnen- und Theosophievorstellungen auf und untersuchen sie in anderen Zusammenhängen: Prettejohn beschäftigt sich mit dem Einfluss der Antike im Werk Watts' und seiner Bindung an die akademische Kunstauffassung in der Nachfolge von Reynolds besonders in Hinblick auf dessen Konzept des "Grand style" und beider Verbundenheit gegenüber Michelangelo und der venezianischen Malerei. Dabei sind diese Strömungen zwar für Watts grundlegend relevant, aber die Anregungen werden nicht kopierend übernommen, sondern der eigenen Gegenwart angemessen umgewandelt. Trodds Ausgangspunkt gilt der "atmospheric presence of energy", der "fusion of art, physics and biology", der "fascination with the perpetual motion of nature" (65). Er widmet sich den Auswirkungen auf die Darstellung der menschlichen Form im Bild und auf die Konzeption traditioneller ikonographischer Inhalte durch Watts. Vorbildlich ist die genaue streng bildbezogene Analyse, die es Trodd ermöglicht, Watts als "modernen" Künstler zu etablieren, der traditionelle ikonographische Formeln mittels der energetischen, um die Begriffe "form and process", "vision and experience" kreisenden Kunstauffassung in moderne Problemfelder hinüberleitet (66). Hierbei geht es um die Frage nach dem Abbildcharakter der Kunst (68), um das Verhältnis der Kunst zu ihren Traditionen und ihrer Bedeutung in der zeitgenössischen Gesellschaft, um Kunst zwischen Emotion und Intellekt (74, 76).
Im Unterschied zu früheren Publikationen, die sich auf motivikonographische Untersuchungen konzentrieren, gelingt es Trodd, durch die Kombination von ikonographischer Betrachtung und genauer Analyse des Bildes die Besonderheiten, die Komplexität und Originalität von Watts' Themengestaltung aufzuzeigen. Zugleich macht diese Analyse auch die Ansprüche Watts' an sein Publikum deutlich: Der Bezug zwischen ikonographischem Motiv und seiner Gestaltung durch den Künstler werden nicht einfach lesbar präsentiert, sondern müssen durch den Betrachter erschlossen werden.
Jedoch wäre, gerade angesichts des weitgefassten Anspruchs der Autoren, in Hinblick auf Watts' Einarbeitung von Theorien der Solarenergie, Vitalitätsvorstellungen und theosophischer Strömungen eine stärkere Verortung dieser Auffassungen innerhalb der zeitgenössischen englischen Kultur und in Watts' engerem Kreis wünschenswert gewesen.
Versuchen die Autoren des ersten Teils, eine Betrachtung von Watts' Œuvre unter neuen Aspekten einzuleiten und widmen sie sich deswegen grundlegenden Problemen, die in einer Beschäftigung mit seinen Arbeiten anfallen, so gelten die Aufsätze des zweiten Teils konkreteren Themen. Sie beschäftigen sich mit Watts' Kunst im Kontext viktorianischer Anliegen - mit der Frage nach einer nationalen Kunst, dem Glauben an eine öffentliche Funktion der Kunst, der viktorianischen Heldenverehrung, der Rolle der Frau in der viktorianischen Gesellschaft. Sie gelten Watts' Teilnahme an den Houses of Parliaments-Wettbewerben, seinen Kontakten zur National Gallery und National Portrait Gallery sowie seiner Porträtmalerei. In seinen Untersuchungen zu Watts' Arbeiten in dieser Gattung überträgt Trodd seine Ergebnisse von einer vitalistischen und auf der Erfahrung gegründeten Kunst Watts' und erarbeitet davon ausgehend Charakteristika und Wirkungsweisen seiner Porträts.
Auch in diesen Aufsätzen wird auf Forschungsdesiderate in der Beschäftigung mit der viktorianischen Kunst und ihrer Institutionen hingewiesen. Die Publikation lädt zu weiteren Forschungen zu Watts ein, die sich von der durch ihn selbst und seinen Kreis geschaffenen Rolle lösen und diese als Teil der Wattsschen Künstlerpersönlichkeit und Kunstauffassung in die kritische Analyse miteinbeziehen müssen. Gerade in Trodds detaillierten Analysen werden die von den Herausgebern angestrebten methodischen Ansätze für die viktorianische Forschung deutlich: Er stellt seine auf dem traditionellen kunsthistorischen Verfahren einer genauen Bildanalyse basierenden Ergebnisse in Bezug zu einer Breite viktorianischer Themengruppen und gelangt darüber zu neuen Erkenntnissen. Somit regt die Publikation zum einen zu einer weiteren genauen Betrachtung der viktorianischen Kunst, zu einer detaillierteren Erforschung ihrer Institutionen und kulturellen Bindungen an, zum anderen legt sie eine gelungene kritische und nüchterne Würdigung Watts' vor.
Michaela Braesel