Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2002, 207 S., ISBN 978-3-7705-3731-0, EUR 24,90
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Es scheint auf den ersten Blick ein krasser Anachronismus zu sein, den Begriff des "Intellektuellen" auf andere Epochen als die Moderne anzuwenden. Entsprechende Formulierungen finden sich in mehreren Beiträgen des hier anzuzeigenden Bandes (zum Beispiel 57, 101, 119). Dass freilich eine solche Begriffsanwendung trotz (oder auch wegen) ihres anachronistischen Charakters zu neuen Erkenntnissen und Interpretationsdebatten führen kann, lässt sich etwa an den Debatten über die scholastische Philosophie des 13. Jahrhunderts ablesen, die nicht zuletzt durch die Wiederaufnahme von Jacques LeGoffs "Les Intellectuels au Moyen Âge" ausgelöst wurden. Dass von Jutta Helds Sammelband eine ähnlich befruchtende Diskussion ausgehen wird, scheint leider nicht für alle Beiträge zwingend. Auffällig ist bereits, dass ein Gutteil der Studien, nicht zuletzt einige der besten Arbeiten des Bandes, entweder auf eine Einordnung ihrer Beiträge in das Gesamtthema praktisch völlig verzichten (Beiträge Mai, Zimmermann) oder die Anwendbarkeit des Intellektuellen-Begriffs gar dezidiert infrage stellen (so vor allem Stenzel, 175, Anmerkung 13). Viele andere Aufsätze, zum Beispiel Hans Peterses perspektivenreiche Ausführungen zur Mainzer und Helmstedter Irenik (99-116), kommen mit kurzen einleitenden Hinweisen zur Verortung ihres Materials im titelgebenden Thema aus (101). Dies ist in diesem Fall insofern bedauerlich, als gerade die soziale Position und das geistige Profil zahlreicher Protagonisten von Peterses quellennaher und präziser Abhandlung es erlaubt hätten, paradigmatisch zu diskutieren, ob nicht etwa diese Personengruppe tatsächlich als 'Intellektuelle' bezeichnet werden könnte.
Nur ein Teil der versammelten Abhandlungen bietet somit eine explizite Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwieweit die Frühe Neuzeit tatsächlich eine eigene Schicht von Intellektuellen gehabt habe, wie sich 'Intellektuelle' von anderen Gruppen von Geistesschaffenden ('Künstlern', 'Gelehrten' et cetera) unterscheiden ließen: Wilhelm Kühlmanns einleitender Problemaufriss wäre hier zu nennen (18-30), der nicht nur in die Ambivalenzen moderner europäischer Intellektualität einführt (18-22), sondern der auch klar Stellung bezieht, wo man die Intellektuellen der Frühen Neuzeit finden könne, nämlich in den marginalisierten Gruppen der radikalen Reformation (Sebastian Franck), der "kritischen Wortwissenschaft" (27 mit Bezug auf Erasmus Bibelphilologie) und der literarischen Satire (Nikodemus Frischlin). All diese Bewegungen, so Kühlmanns zentraler Punkt, seien dabei gerade nicht als weltfremde Angelegenheiten zu verstehen, sondern als Denken mit "provokativer Brisanz" (29), die nicht zuletzt sozialreformerisch wirken wollten. Ein anderer Beitrag, der aufschlussreich auf Elemente einer kritischen Intellektualität eingeht, ist Hans Rudolf Veltens Abhandlung zum Zusammenhang von Intellektualität und Autodidaktentum (55-81). Hier werden wesentliche Komponenten des frühneuzeitlichen Bildungskonzepts vorgeführt, das dem anleitungslosen Lernen und Urteilen lange Zeit sehr kritisch gegenüberstand. Hartmut Stenzels Beitrag über Gabriel Naudé schließlich (170-192), auch wenn er sich wie gesagt kritisch zur Verwendbarkeit des Intellektuellen-Begriffs äußert, rekonstruiert sehr anschaulich die Bedingungen und Grenzen intellektueller Unabhängigkeit, wo die Protagonisten - wie Naudé - zwischen Staatsmacht, humanistischer Tradition und dem Bewusstsein epochaler Neuartigkeit eingespannt waren.
Sind mit den genannten Beiträgen in aufschlussreicher, wenngleich jeweils sehr unterschiedlicher Weise der gesellschaftliche und intellektuelle Ort, die Grenzen und Möglichkeiten sowie die konzeptionellen Rahmenbedingungen von Intellektualität in der Frühen Neuzeit angesprochen, so sind weitere Aspekte des Themas in verschiedenen Beiträgen zwar benannt, aber nur unzureichend ausgeführt. Andreas Bauers Ansatz, den neu entstandenen Stand der Juristen und fürstlichen Räte unter dem titelgebenden Stichwort zu behandeln, zielt auf eine wichtige Frage (85-98). Gerade ein an Gramscis "organischen Intellektuellen" (vergleiche zum Beispiel Jutta Helds Einführung, 10) interessierter Sammelband könnte hier ein umfangreiches Arbeitsfeld auftun. Ließe sich nicht, um bei den welfischen Territorien, Bauers Exempel, zu bleiben, etwa an der Wolfenbütteler Beamtenschaft um 1600 paradigmatisch zeigen, wie fürstlicher Rat und Landesuniversität miteinander kooperierten, wie auf personaler Ebene zwischen gelehrter Existenz und politischer Macht hin- und herchangiert wurde, man denke beispielhaft nur an das Verhältnis des Späthumanisten Johannes Caselius zum Kanzler Johannes Jagemann? Leider bietet Bauer, der sich auf die vorhandene Forschung zu Balthasar Klammer und Johann Oldendorp stützt, kaum weiterführende Überlegungen zu diesem Themenfeld. Auch Susanne Homeyers Beitrag über Flugblätter als Mittel der Wissensvermittlung (33-42) setzt mit den medialen Bedingungen von Intellektualität an einer interessanten Stelle an. Ihr Referat schreibt Wolfgang Harms Einsichten fort, die das Flugblatt als (potenziell) schichtenübergreifendes Medium der Wissensvermittlung herausgestellt haben. Mit diesem 'Abbau an Bildungsschranken' seien die Flugblätter an der Entstehung einer modernen, soziale Schichten übergreifenden Intellektualität beteiligt gewesen (vergleiche 34, 42). Ähnlich wie Homeyer postuliert auch Inta Knor in ihren Bemerkungen zu Augsburger Leserprofilen (43-51) die Relevanz ihres Themas für die Geschichte frühneuzeitlicher Intellektualität eher, als dass dies sorgfältig durchgeführt würde.
Dass die Kunstgeschichte mit zwei Beiträgen vertreten ist, ist sehr zu begrüßen. Michael Oevermanns (119-145: "Die Pläne François Aguilons für den Bau der Antwerpener Jesuitenkirche") griffige Bestimmung des 'Intellektuellen' als demjenigen, 'der einen wichtigen Beitrag zu einer zeitgenössisch aktuellen Debatte auf politischem, sozialem oder künstlerischem Gebiet liefert', ermöglicht (ähnlich wie Kühlmanns einleitende, aber eher inhaltlich ausgerichtete drei Kriterien, 21) eine einigermaßen scharfe Unterscheidung des Intellektuellen etwa vom Gelehrten. Die Debatten um den Bau der Kirche darf man dann wohl nicht nur als künstlerischen Diskurs über eine angemessene ästhetische Lösung des konkreten Kirchenbauprojekts verstehen, sondern darüber hinaus als Konflikt von Intellektuellen darüber, was der angemessene Deutungs- und Verstehenshorizont für die Bewertung von Kirchenarchitektur schlechthin sei. Die Jesuitenkünstler würden dann zu jesuitischen Intellektuellen, insofern sie eben die gesellschaftlich geltenden Wert- und Verstehenskategorien prüften. Mit Ekkehard Mais Referat über Salvator Rosa und die malenden Außenseiter der Bamboccianti in Rom (149-169) wird - ebenso wie mit Margarete Zimmermanns Rekapitulation von Werk und Leben der Zölibats-Befürworterin Gabrielle Suchon (193-207) - schließlich ein weiteres, wichtiges Thema angesprochen: die Konstruktion beziehungsweise Deutung von intellektuellem (und sozialem) Außenseitertum und seine Verbindung zum Intellektuellentum (vergleiche erneut Kühlmanns Hinweis auf die "Legitimität [...] der institutionell nicht ermächtigten Kritik", 21). Die damit angesprochene Problematik, wie und wo alternative Räume von Geistesschaffen entstehen konnten, wie diese sozialen und intellektuellen Sonderbereiche von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sowie der umgebenden Gesellschaft wahrgenommen wurden, dürfte für zukünftige Überlegungen zum Thema von besonderer Bedeutung sein.
Am Ende bleibt ein zwiespältiger Gesamteindruck, zunächst und in erster Linie, was die Qualität verschiedener Einzelbeiträge angeht, auch wenn eine Reihe von konzeptionell und inhaltlich äußerst lesenswerten Beiträgen ebenfalls versammelt ist. Eine recht heterogene Auffassung des Intellektuellen-Begriffs war bei einem Sammelband zudem wohl kaum zu vermeiden, schade ist aber, dass das Konzept darüber hinaus bei verschiedenen Beiträgen entweder gar nicht oder nur eher salvatorisch eingeführt wurde. Damit ist das heuristische Potenzial, das die Anwendung der Kategorie haben könnte, für die Frühe Neuzeit weiterhin noch nicht völlig ausgeschöpft. Fragen nach dem sozialen und intellektuellen Standort unabhängiger Gelehrsamkeit, nach der Selbstwahrnehmung von Gebildeten gegenüber der Gesellschaft und dem politischen Leben, nach dem 'Lebensstil' und dem habitus außeruniversitärer Gelehrsamkeit, nach der gesellschaftlichen Ermächtigung von intellektueller Kritik, schließlich nach dem Verhältnis von kritischer Subversion und diskursiver Normstabilisierung durch die kontinuierliche intellektuelle Reflexion auf gesellschaftliche Werte und Ideale lassen sich auch nach Erscheinen dieses Sammelbandes weiterführend diskutieren - gewinnbringend vielleicht gerade in der Konfrontation der Frühen Neuzeit mit dem anachronistischen Stichwort "Intellektuelle".
Markus Friedrich