Franz Mairinger: Strahlenuntersuchung an Kunstwerken (= Bücherei des Restaurators; Bd. 7), Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2003, 256 S., 19 Farb-, 249 s/w-Abb., ISBN 978-3-363-00778-7, EUR 65,00
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Das vorliegende Buch ist die Summe jahrzehntelanger Forschungs- und Lehrerfahrung des Autors, der von 1967 bis1998 Vorstand des Instituts für Farbenlehre, Farbenchemie und Malmaterialienkunde an der Akademie der Bildenden Künste in Wien gewesen ist.
Das erste Kapitel widmet sich dem schichtweisen Aufbau des Untersuchungsgegenstandes - wobei der Schwerpunkt auf Tafelbildern liegt. Dem folgt ein Kapitel über die physikalischen Grundlagen der Strahlendiagnostik, gedacht für Leser mit durchschnittlicher naturwissenschaftlicher Bildung (also wohl ein Großteil dieser Leser) - dennoch anspruchsvoll und sehr grundlegend. Anschließend werden die Methoden der Oberflächenuntersuchung ausführlich vorgestellt - untergliedert in solche im sichtbaren Bereich (in Streif- und polarisiertem Licht, im Mikro- und Makrobereich und mithilfe von Endoskopen einschließlich fotografischer Dokumentation) wie im unsichtbaren ultravioletten.
Der abschließende und längste Teil des Buches erläutert die Verfahren der Tiefenuntersuchung mittels infraroter und Röntgenstrahlen, wobei unter letzteren Abschnitt auch Computertomographie, Elektronenautoradiographie und andere Methoden fallen.
Die Erklärung der naturwissenschaftlichen und technischen Gegebenheiten ist gründlich und praxisnah, indem theoretischen Erörterungen stets eine Zusammenfassung folgt, die die praktischen Konsequenzen für die Untersuchung der Kunstwerke erläutert. Es entspricht dem Zweck dieses Buches, Kunsthistorikern und Restauratoren die Auswahl zweckmäßiger Untersuchungsverfahren und geeigneter Technik zu erleichtern. Der Autor ist sich bewusst, dass die Ausführungen zu den Möglichkeiten und Leistungsparametern digitaler bildgebender Verfahren bereits bei Erscheinen des Buches veraltet sein werden, dennoch sind sie nicht überflüssig, weil sie Grundlegendes erörtern und Entwicklungstendenzen verdeutlichen, also auch bei der Auswahl künftiger Gerätegenerationen helfen können.
Das Buch zeigt, wie sehr sich die Bildqualität vor allem im Bereich der Infrarotuntersuchung in den letzten Jahrzehnten verbessert hat. Nicht immer Schritt gehalten hat damit die Auswertung der Tiefenuntersuchungen. Grundsätzlich sind hier zwei - im Idealfall einander ergänzende - Verfahren möglich: Das erste bezieht sich auf die "harten" Fakten, die sich mehr oder weniger "exakt" in einem quasi naturwissenschaftlichen Verständnis verifizieren lassen: Materialeigenschaften, technische Eigenheiten, Übertragungsspuren, die Art des Zeichenmittels, Übermalungen, Pentimenti und Bildplanänderungen.
Der Autor erläutert die Möglichkeiten und Grenzen dieser Methode detailliert anhand zahlreicher Beispiele, wobei streng zwischen Phänomen, die auf die Entstehung eines Kunstwerks verweisen, und solchen, die Folgen seiner späteren Geschichte sind, unterschieden wird.
Auf die Typologie der Unterzeichnungen folgt eine der Übertragungsverfahren von Vorzeichnungen auf den grundierten Bildträger sowie eine Charakteristik der hierbei verwendeten Zeichengeräte und -medien, schließlich eine Diskussion der Faktoren, die die Sichtbarkeit der Unterzeichnungen bei Infrarotuntersuchungen beeinflussen. Mairinger führt dann in das Anwendungsgebiet nahe am Sichtbaren gelegener Infrarotstrahlung zur Untersuchung der Malschicht von Gemälden ein, besonders bedeutsam ist hierbei die Erkennung der Pentimente, wobei es dem Autor gelingt, die bisher gebräuchliche Charakteristik und Einteilung solcher "Reuezüge" zu verfeinern. Wichtig ist auch der Hinweis auf das Desiderat einer derartigen Unterscheidung für die Analyse von Unterzeichnungen.
Solcherart Fakten kann auch die Untersuchung mit Röntgenstrahlen erbringen, wobei aber erschwerend hinzukommt, dass hierbei nicht eine Schicht des Gemäldes, sondern nur die Summe aller abgebildet werden kann.
Die zweite der genannten Auswertungsmethoden bezieht sich auf die Spuren der Hand des Malers - hier ist Allgemeinverbindlichkeit viel schwerer zu erzielen, die Interpretation verlangt große Erfahrung, auch Einfühlung und - bestenfalls - Kenntnis der in Frage kommenden Zeichen- und Malverfahren aus eigener Praxis. Der individuelle Anteil des Interpreten ist ungleich größer als beim ersten Verfahren. Von "künstlerischer Handschrift" wird zwar immer wieder geredet, die Interpretationen in dieser Richtung bleiben aber - mit wenigen Ausnahmen - dürr. Hinzu kommen die Gepflogenheiten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werkstattbetriebs, auf die Mairinger hinweist (134): Ausführender der Unterzeichnung muss nicht der Meister selbst gewesen sein. Es ist bezeichnend für die Situation, dass der Ausdruck "Pinselhandschrift" selten vorkommt, etwa im Zusammenhang mit "spätere[n] Eingriffen von fremder Hand" (151); an anderer Stelle heißt es, die "Pinselhandschrift" einer Werkstattkopie unterscheide sich vom Original (216) - aber worin besteht diese Handschrift genau? Für ein solches Interpretationsverfahren gibt es - sowohl auf Untersuchungen im sichtbaren wie im unsichtbaren Licht bezogene - wegweisende Vorarbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, aus denen bis heute aber keine allgemeinverbindlichen Kriterien für derlei Untersuchungen entwickelt worden sind. Der Autor verzichtet denn auch ausdrücklich auf eine "eingehendere Diskussion kunstwissenschaftlicher Fragen, wie eine systematische Behandlung der Form und der Entwicklung der Unterzeichnung und die Frage, inwieweit sie arbeitstechnischen oder künstlerischen Charakter besitzt" (134).
Ein abschließender Abschnitt ist der Röntgenuntersuchung von Skulpturen gewidmet, wobei zu ergänzen wäre, dass auch die Infrarotreflektographie bei gefassten Holzskulpturen bereits Anwendung gefunden hat, etwa um Visierungen für den Fassmaler sichtbar zu machen.
Literatur ist in den Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln beziehungsweise Unterkapiteln aufgeführt. Hier finden sich alle Standardwerke zum Thema und Arbeiten zu einzelnen Phänomenen, sofern sie im Text behandelt werden. Die Literatur ist denn auch "exemplarisch nach didaktischen Gesichtspunkten und nach der Verfügbarkeit für den Studenten ausgewählt", das heißt eine umfassende Bibliografie zu allen behandelten Bereichen steht noch aus und bildete wohl ein Buch für sich.
Von naturwissenschaftlicher Seite sind Einwände gegen dieses Buch erhoben worden, die der anwendungsinteressierte Leser zur Kenntnis nehmen sollte [1], obgleich sie Verdienst und Nützlichkeit dieses Buches in keiner Weise schmälern, da sie Wesentliches nicht in Frage stellen.
Ein derart umfassendes Handbuch war seit Jahren ein Desiderat - die verdienstvollen Bücher von Heinrich Nickel (1959) und Knut Nicolaus (1979) [2] sind vor allem in technischer Hinsicht veraltet, die Arbeiten von 1938 und 1970 zur kunsthistorischen Auswertung von Strahlenuntersuchungen [3] sind allerdings heute noch grundlegend, werden aber von Mairinger weiterentwickelt, dem somit ein grundlegendes Kompendium zum Thema gelungen ist.
Anmerkungen:
[1] Rezension von Henrik Schulz in: Restauro 110 (2004) 4, 260-261.
[2] Nickel, Heinrich L., Fotografie im Dienste der Kunst, Halle 1959; Nicolaus, Knut, Gemälde: untersucht - entdeckt - erforscht, Braunschweig 1979.
[3] Wolters, Christian, Die Bedeutung der Gemäldedurchleuchtung mit Röntgenstrahlung für die Kunstgeschichte, Frankfurt (Main) 1938; Taubert, Johannes, Zur kunstwissenschaftlichen Auswertung von naturwissenschaftlichen Gemäldeuntersuchungen, Diss. Univ. Marburg 1956, Buchausgabe München 2004; Van Asperen de Boer, J. R. J., Infrared Reflectography. A Contribution to the Examination of Earlier European Paintings, Diss. Univ. Amsterdam 1970.
Albrecht Pohlmann