Werner Tschacher: Der Formicarius des Johannes Nider von 1437/38. Studien zu den Anfängen der europäischen Hexenverfolgungen im Spätmittelalter, Aachen: Shaker Verlag 2000, IV + 698 S., ISBN 978-3-8265-8141-0, EUR 39,50
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Im Rahmen der historischen Hexenforschung, die sich zurzeit insgesamt einer bemerkenswerten Vitalität erfreut, haben auch die Nider-Studien Konjunktur: Der aus dem schwäbischen Isny stammende dominikanische Theologe Johannes Nider gilt aufgrund seines Formicarius, in dem er die Berichte mehrerer Gewährsleute verarbeitet hat, als wichtiger Zeuge (wenn auch zweiter Hand) für die im frühen fünfzehnten Jahrhundert einsetzende Hexenverfolgung. Sein Wirken und Werk ist Gegenstand von nicht weniger als drei neuen Dissertationen: der hier anzuzeigenden Monografie von Werner Tschacher, die auf einer 1997/98 an der Technischen Hochschule Aachen abgeschlossenen Dissertation beruht, dicht gefolgt von Michael D. Baileys noch nicht im Druck erschienener Arbeit "Heresy, Witchcraft, and Reform: Johannes Nider and the Religious World of the Late Middle Ages" (Northwestern University, Evanston, Illinois, 1998). Das ambitionierteste und deshalb auch Zeit raubendste Projekt verfolgt Catherine Chène (Lausanne), die an der kritischen Edition des Formicarius auf der Grundlage sämtlicher Handschriften arbeitet; die für die frühe Hexenverfolgung besonders aufschlussreichen Teile des Traktats hat sie 1999 im Lausanner Quellenband "L'imaginaire du sabbat. Edition critique des textes les plus anciens (1430 c.-1440 c.)", herausgegeben von Martine Ostorero, Agostino Paravicini Bagliani und Kathrin Utz Tremp, vorgelegt.
Doch nun zu Werner Tschachers "Formicarius": In Teil I (29-80) spürt der Autor dem Lebensweg des 1438 in Nürnberg verstorbenen Dominikaners Nider nach, der aufgrund seines vielseitigen Wirkens als "eine der Leuchtfiguren der Kirchen- und Ordensreform sowie der pastoralen Seelsorge der Regularen und Monialen, der Weltgeistlichen und Laien im frühen 15. Jahrhundert" (453) gelten darf. Im zweiten Teil (81-243) beschäftigt er sich mit Überlieferungsgeschichte, Aufbau und Struktur des Formicarius (deutsch: "Ameisenhaufen"). In Niders dialogisch aufgebautem Hauptwerk kommt einem "Theologus" - bei dieser Figur handelt es sich um das Sprachrohr des Verfassers - die Aufgabe zu, "die Ameisenmetaphorik moralphilosophisch auszulegen, Spezialfragen des 'Piger' [der die Schülerrolle einnimmt] mit Hilfe der scholastischen Gelehrsamkeit zu beantworten, belehrende und anschauliche Exempla zu erzählen und didaktische Synthesen der behandelten Fragen [...] zu formulieren" (149). Teil III (245-340) ist dem dämonologischen und prozessgeschichtlichen Umfeld des Formicarius gewidmet. Darin geht Tschacher zum einen auf die universitäre Dämonologie in Paris, Köln, Wien und Heidelberg ein, zum anderen auf die ersten (Proto-)Hexenprozesse im norditalienischen Raum, der Dauphiné und der nachmaligen Schweiz. Im abschliessenden vierten Teil (341-474) kehrt Tschacher mit seinen Überlegungen zu "Dämonologie, Zauberei und Hexerei bei Johannes Nider" zum Thema im engeren Sinn zurück, wobei er Nider in seinem Fazit im Hinblick auf das Hexereidelikt wohl zu Recht als "eher gemäßigten Traditionalisten" (467) einschätzt. Den Anhang (475-544) bildet eine Kapitel- und Exempelliste des Formicarius.
Diese knappe Aufzählung vermittelt natürlich nicht mehr als eine blasse Vorstellung von der Fülle des von Tschacher angeführten Materials. Allerdings, und hier möchten wir unsere Vorbehalte anmelden, scheint diese Materialmenge bisweilen eine gewisse Eigendynamik gewonnen zu haben. Zwei Beispiele mögen als Illustration genügen: Die - wenigstens teilweise aus den entsprechenden Bibliothekskatalogen zusammengestellte - Beschreibung der Formicarius-Handschriften (87-104) würde man wohl eher in einer kritischen Edition erwarten. Etwas ratlos hinterlassen einen auch die Anmerkungen zu den Inkunabeln (117-125), wo der "Rohstoff" für eine zweite, druckgeschichtliche Arbeit in ausufernden Fussnoten komprimiert ist.
Überhaupt stellt sich die Frage nach dem Zielpublikum des vorliegenden Bandes: Die oben angesprochenen Angaben dürften nur für ausgesprochene Fachleute von Interesse sein; anderes hingegen ist sicher auch einem breiteren Leserkreis zugänglich. Dazu gehören insbesondere all die Abschnitte, in denen Tschacher seine Quellen kommentierend paraphrasiert, sei dies Nider selbst (ausgedehnt in Teil IV), seien dies andere Autoren wie der Richter Claude Tholosan, der Chronist Hans Fründ, der Anonymus der "Errores Gazariorum" oder der Kleriker Martin Le Franc (in Teil III). Gerade bei diesen Texten - aber nicht nur da - wird deutlich, was Tschacher meint, wenn er in der Einleitung schreibt: "Die Dissertation des Verfassers versteht sich als Synthese wie auch als kritische Bestandesaufnahme älterer und unabhängig voneinander erzielter jüngerer Forschungsergebnisse" (21).
Die fraglichen Texte sind seit 1901 (durch Joseph Hansen) beziehungsweise 1979 (durch Pierrette Paravy) ganz oder auszugsweise bekannt. Dabei ist es Tschacher sicher nicht anzukreiden, wenn ihm die Lausanner Equipe vor der Veröffentlichung seiner Dissertation mit den im "Imaginaire du sabbat" vorgelegten Neueditionen gleichsam "zuvorgekommen" ist. Diese zugegebenermaßen unglückliche Konstellation mag indes erklären, weshalb Tschacher zwar daran festhält, den betreffenden Sammelband wegen des anstehenden Redaktionsschlusses "nur noch punktuell" benutzt zu haben (27), während sein eigener Anmerkungsapparat allerdings einen anderen Eindruck vermittelt.
Unbestritten ist, dass sich in den von Tschacher "ameisenfleißig" zusammengetragenen Materialien viel Nützliches findet, nicht zuletzt wenn es um die Identifizierung von Einzelpersonen geht: In diesem Zusammenhang sei exemplarisch auf das Kapitel zu den mündlichen Quellen Niders (169-178) hingewiesen. Die Ausführungen zur universitären Dämonologie des frühen 15. Jahrhunderts in Paris, Köln, Wien und Heidelberg (269-291) regen zu einer Horizonterweiterung der bisweilen allzu stark auf den Alpenraum und dessen Ausläufer konzentrierten mediävistischen Hexenforschung an. Was die spannende Verbindung zwischen dominikanischer Observanz und der Bekämpfung von Häresie beziehungsweise Hexerei betrifft, so finden sich einschlägige Passagen in der ganzen Monografie, die Bündelung der Informationen bleibt allerdings dem Leser selbst überlassen.
Unter dem Strich bleibt so ein gemischtes Fazit; zugunsten des Buches kann jedoch festgehalten werden, dass es als Materialsammlung gute Dienste leistet.
Georg Modestin