Clemens Wischermann (Hg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung (= Studien zur Geschichte des Alltags; Bd. 18), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 203 S., ISBN 978-3-515-08065-1, EUR 44,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Friedrich Meinecke: Neue Briefe und Dokumente. Herausgegeben und bearbeitet von Gisela Bock und Gerhard A. Ritter, München: Oldenbourg 2012
Andreas Bauer: Das Wunder von Bern. Spieler - Tore - Hintergründe: Alles zur WM 54, Augsburg: Wißner 2004
Martin Gierl: Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004
Die Gesellschaft zeichne sich zunehmend durch ihre "Biographisierung" aus; der traditionelle Umgang mit Geschichte werde - gerade von einer jüngeren Generation - in Frage gestellt, Erinnerung werde verstärkt als Abkehr von kollektiven Gedächtnisformationen und als Hinwendung zu einem vom Subjekt ausgehenden Vergangenheitsbezug begriffen. Parallel zu dieser Entwicklung habe sich die Theorie des Gedächtnisses gewandelt: Sei man früher von einem "einseitig in der Zeit von der Vergangenheit in die Gegenwart gerichteten Tradierungsprozeß" (14) ausgegangen, erkläre man Erinnerungsleistungen heute eher als Konstruktionen; zudem habe man sich vor allem den kollektiven Gedächtnissen in übergreifenden Milieus gewidmet, während die Untersuchung kleinräumiger Gedächtnisse noch wenig erforscht sei.
Mit diesen Ideen, die der Herausgeber in seinen "Einleitenden Überlegungen" vorstellt, soll den acht Beiträgen des Bands eine einigende methodische Fragestellung gegeben werden. Bedenkt man die Diskussionen um die Friedenspreisrede Martin Walsers, auf die Wischermann selbst hinweist, und berücksichtigt man die im Rahmen der "Wiedergutmachungspolitik" geäußerte Kritik, ritualisierte Gedächtnispraktiken könnten sich zu hohlen Floskeln einer political correctness verlieren, dann scheint diese Fragestellung von eminenter politischer Bedeutung.
Der Band, dessen Autoren mehrheitlich Promovenden des Herausgebers sind, ist indes nicht so einheitlich, wie die Einführung glauben machen will. Die kurzen Aufsätze von Miriam Gebhardt und Andreas Dümpelmann wirken wie Skizzen größerer Projekte. Gebhardt widmet sich in ihrem Beitrag "Zur Psychologie des Vergessens: Antisemitismus in jüdischen Autobiographien vor und nach 1933" mit gedächtnispsychologischem Interesse den Bedeutungszuschreibungen und rückwirkenden Bewertungen in Erinnerungen an Nationalsozialismus und Holocaust. Hier wäre eine nähere Ausführung der interessanten Ansätze wünschenswert gewesen. Dümpelmann philosophiert in "Maler des eigenen Lebens. Individuelle Identität zwischen Erinnern und Vergessen" über das Problem von Erinnern und Vergessen im Zeichen moderner Individualisierung, ohne dass eigentlich deutlich würde, warum das Individuum der Moderne "einen Bruch [...] mit der Vergangenheit, mit seinem eigenen Herkommen, seinem Erbe" erzeugen muss, "um sich für sich zu identifizieren" (185).
Mit "Geschichtsschreibung als erinnernde Sinnkonstruktion" greift Sandra Markus ein Thema auf, das besonders im Rahmen der Narrativitätstheorie der 1970er-Jahre zum Gegenstand gemacht worden ist und dessen Revision im Zeichen konstruktivistischer Ansätze wünschenswert ist. Leider zeigt die Autorin lediglich den alten Argumentationshorizont auf, ohne neue Perspektiven zu eröffnen. Stefan Zahlmanns Studie über "DDR-Erinnerungskultur in Spielfilmen der DEFA" ist ein Vergleich von drei "Fallstudien", aus denen ein "filmisches kulturelles Gedächtnis" abgeleitet, periodisiert und bewertet werden soll. Breiten Raum nimmt die Schilderung des plots ein. Die für jeden Film charakteristischen Handlungsinhalte werden als "Erinnerungskomplexe" bezeichnet, das "filmische Gedächtnis" der DDR in zwei Phasen ("Nachkriegszeit bis späte sechziger Jahre - Definitionen"; "Siebziger und achtziger Jahre - Redefinitionen") gegliedert, was die übliche politische Periodisierung der DDR- Geschichte lediglich bestätigt. Zahlmanns Abschlusskapitel versucht sehr bemüht den Rückbezug zum Generalthema des Bands.
Ebenfalls einen breiten Darstellungsteil, aber deutlicheren Themenbezug und stärkere Thesen hat der Beitrag von Katja Patzel-Mattern, "Jenseits des Wissens - Geschichtswissenschaft zwischen Erinnerung und Erleben". Die Autorin stellt in prägnanten Skizzen die Bedeutung von "Gedächtnis/Erinnerung" in den Theorien von Bergson, Freud, Dilthey, Steinhausen, William James und Georg Simmel dar, um eine Hilfe zur Erfassung "der gegenwärtigen Entwicklung [...], die in zunehmendem Maße in eine biographisierte Gesellschaft führt" (154), zu gewinnen. Ob man ihrer Forderung zustimmen soll, die "hermeneutische Bestimmung des Erkenntnisprozesses [...] durch die konsequente konstruktivistische Grundlegung einer Erinnerungstheorie" ersetzen zu müssen (156), sollte einer gründlicheren Argumentation vorbehalten bleiben. "Geschichtsbildern im katholischen Milieu des Kaiserreichs" sind die Überlegungen Uta Rasches gewidmet. Die empirisch fundierte Studie weist durch die Analyse der Programme zweier katholischer Verlage ("Herder"; "Bachem") die Besonderheiten katholischer Identitätskonstruktion durch Vergangenheitsbezüge auf.
Tiefschürfender ist Helke Stadtlands "Ausgrenzung, Amnestie und Integration in der Gründungsphase der ostdeutschen Gewerkschaften". Eindrucksvoll wird hier der Weimarer Erfahrungshorizont für die Haltung kommunistischer und sozialdemokratischer Gewerkschafter in der Gründungsphase des FDGB erläutert. Das "Auf-Linie-bringen" der Gewerkschaftsfunktionäre nach 1947/48 erweist sich so nicht allein als Sieg der Stalinisten im Kampf um die politische Oberhoheit und als Umsetzung sowjetischer Vorgaben, sondern als spezifische Form einer "Vergangenheitspolitik". Vielleicht ist es nicht zuletzt der Verwendung des von Norbert Frei und Edgar Wolfrum maßgeblich geprägten Begriffs der "Vergangenheits-" beziehungsweise "Geschichtspolitik" geschuldet, dass Stadtlands Beitrag sich positiv abhebt. Die Autorin verwendet nicht die mitunter schwierig zu trennenden Begriffe "Gedächtnis" und "Erinnerung", und sie thematisiert auch nicht die Formel von der "Biographisierung der Gesellschaft".
Damit umgeht sie die Schwächen aller anderen Artikel, sofern sie sich auf das Leitthema beziehen: Erstens wird in vorliegendem Band nicht deutlich, wo der entscheidende Unterschied zwischen der "Biographisierung der Gesellschaft" und der Individualisierung beziehungsweise Subjektivierung des Individuums in der Neuzeit liegen soll, der einen Theoretisierungsbedarf legitimierte (zumal alle Beiträge Zeitschichten nach 1850 behandeln). Zweitens macht es kategorial keinen Unterschied, ob man das Gedächtnis einer ganzen Nation oder einer Teilgruppe der Gesellschaft untersucht; hier ändert sich lediglich das Definitionsmerkmal der Gruppenzugehörigkeit. Drittens wird keine deutliche Differenzierung zwischen "Gedächtnis" und "Erinnerung" getroffen. Daraus resultiert die größte Schwäche: die Quasi-Materialisierung des Gedächtnisbegriffs. Wenn Rasche zu dem Schluss kommt, dass es "Gedächtnisgrenzen [gebe], die parallel zu den Milieugrenzen verlaufen" (52), so wird das Grundproblem deutlich, dem die Fragestellung des Gesamtbands erliegt: Das 'kollektive Gedächtnis' ist eine Konstruktion, keine soziale Repräsentationsform, wie es die Autoren dieses Bandes meist verstehen; es ist ein Idealtypus zur Beschreibung historisch orientierter Denkhaltungen gesellschaftlicher Gruppen. Erinnerung als Herstellung subjektiver Bilder von der Vergangenheit ist dagegen ein gesellschaftlicher Handlungsbezug. Allein sie kann zu einer Form sozialer Ausdrucksweise werden, die dem Milieubegriff verwandt wäre. Dann allerdings sollte man nicht die Dichotomie von "kollektivem Gedächtnis" und "individualisierter Erinnerung" als Ausgangspunkt wählen, sondern methodische Kategorien wie die erwähnte "Vergangenheits-" beziehungsweise "Geschichtspolitik" oder auch "Erinnerungsorte", um den Gegensatz zwischen sozialen Äußerungen des erinnernden Individuums und ritualisierten, zum Teil vorgeschriebenen Gedächtnisinhalten (Gedenkstätten, Feiertage) zu erfassen.
Stefan Jordan