Ettore Vio (Hg.): San Marco. Geschichte, Kunst und Kultur, München: Hirmer 2001, 320 S., 276 Abb., ISBN 978-3-7774-9120-2, EUR 86,00
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Das vorzustellende Buch gliedert sich in drei Teile, die sich mit der Kulturgeschichte, mit Architektur und Skulptur sowie mit den Mosaiken und dem Kirchenschatz von San Marco befassen.
Der erste Abschnitt beginnt mit einer Darstellung zum heiligen Markus, dem Schutzpatron Venedigs (Staale Sinding-Larsen). Diese enthält Texte zur Biografie des Heiligen (Antonio Niero) und zum 25. März, dem legendären Gründungstag Venedigs (Maria Da Villa Urbani). Hier wird die politische Motivation bei der Wahl des Heiligen Markus als Schutzpatron Venedigs und deren Untermauerung durch Legenden verdeutlicht. Das Phänomen der Notwendigkeit eines Schutzpatrons für eine mittelalterliche Stadt wird aus der antiken und katholischen Tradition heraus erklärt. Schließlich resultiert daraus die Rolle, welche die Reliquien für die Stadt und den entstehenden Staat spielen, sowie die Einbeziehung des heiligen Markus in das Staatszeremoniell.
Im Kapitel zum Staatsritual von San Marco (Staale Sinding-Larsen) wird die Bedeutung der Kirche bei den Staatszeremonien beschrieben und die Stellung, die der Doge dabei innehatte, gedeutet. Bedeutsame Einflüsse kamen aus der römisch-antiken und der byzantinischen Tradition. An diesem Ort verflochten sich Religion und Politik; die Architektur, ja die gesamte Urbanistik bekam symbolische Bedeutungen zugewiesen. Die Vielschichtigkeit und die Komplexität des Rituals wurden schon von den Zeitgenossen als äußerst kompliziert und schwierig durchzuführen empfunden. Anhand des Grabmals des Dogen Andrea Dandolo (Debra Pincus), des letzten Amtsträgers, der in San Marco begraben wurde, wird die Bedeutung der Procuratori di San Marco bei der Zuweisung des Begräbnisplatzes für den Dogen geschildert. Die kunsthistorische Besonderheit des Grabmals wird herausgehoben, denn hier ist erstmalig der Verstorbene als Liegefigur auf dem Sarkophag dargestellt, wie es für die zukünftigen Dogengrabmäler üblich werden sollte. Die musikalische Tradition an der Markuskirche (David Bryant) wurde in der capella musicale, dem Chor und dem Orchester der Kirche gepflegt. Hier entstand eine ungewöhnliche Musiktradition, die auch bei den Staatszeremonien Verwendung fand. Sie beruhte hauptsächlich auf dem Einsatz eines doppelten Chors, wobei Sänger und Musizierende im Raum auf ausgeklügelte Weise verteilt waren.
Der letzte Bereich des ersten Abschnitts beschäftigt sich mit der Rolle von Frömmigkeit und Herrschaftsanspruch (Ennio Concina). Er enthält Texte zur "kaiserlichen Inschrift", die Franz I. 1815 anbringen ließ (Maria Da Villa Urbani), und zu den Pferden von San Marco (Michael Jacoff). Die symbolische Bedeutung von San Marco zeigt sich auch in der Baugeschichte. Die Verwendung zahlreicher Spolien soll die Verbindung der neuen Kirche mit den antiken Ursprüngen und den byzantinischen Vorbildern zeigen. Dies ist eindeutig als Symbol für einen politischen Anspruch zu sehen. Der symbolische Sinngehalt zeigt sich ebenfalls im Dekorationssystem, und zwar nicht nur im Bildprogramm der Mosaiken, sondern auch in den Herkunftsorten der Marmordekoration und in der komplizierten Fußbodengestaltung. Die wechselnden Aufstellungsorte der vier Pferde von San Marco zeigen die besondere Symbolik, die dieser Skulpturengruppe auch nach dem Ende der Republik noch beigemessen wurde.
Der zweite Hauptteil beschäftigt sich zunächst mit der Architektur der (heutigen) Patriarchalbasilika von Venedig (Ettore Vio). Anhand der Baubeschreibung werden die Gemeinsamkeiten und die byzantinisch beeinflussten Unterschiede zu griechischen Kirchen gezeigt. Durch eine Rekonstruktion der Vorgängerbauten und eine Chronologie der Bauphasen wird deutlich, dass San Marco ein "lebendiges Erbe der römischen, byzantinischen und venezianischen Kultur" (126) ist. Der Beitrag über die Farben des Marmors (Simonetta Minguzzi) befasst sich mit den Marmorelementen der Wandverkleidungen, die größtenteils aus wieder verwendetem byzantinischen Material besteht. Es gibt hier einen symbolischen Einsatz von Marmorarten und ihren Farben, der demjenigen der Antike vergleichbar ist. Der Mosaikfußboden (Renato Polacco) stellt ein geometrisches Schema mit Tiersymbolen und florealen Elementen dar, welches ebenfalls auf byzantinische und antike Vorbilder zurückgreift. Schließlich wird auf die Rezeption der Basilika durch den englischen Kunsthistoriker John Ruskin im 19. Jahrhundert (John Unrau) eingegangen. Von ihm, wie auch von seinen Zeitgenossen, wurde die Architektur von San Marco komplett abgelehnt. Dies hinderte Ruskin jedoch nicht daran, den einzelnen Bauelementen eine sehr detaillierte Beschreibung zu widmen. Das folgende Kapitel bietet einen kurzen Abriss zur Geschichte der Skulptur in San Marco (Guido Tigler), worin wichtige Elemente der Bauplastik datiert und zugeschrieben werden. Bei den Reliefs der Portale lassen sich Ähnlichkeiten mit Arbeiten in anderen italienischen Städten und mit Formen, die sich an älteren venezianischen Palästen finden, feststellen. Das erklärt sich damit, dass die Meister, die diese Skulpturen schufen, häufig die Bauhütten wechselten. In dem Abschnitt zum Hauptportal (Guido Tigler) wird dies besonders deutlich, denn hier gibt es stilistische und ikonographische Parallelen zum sogenannten "Meister der Ferrareser Monate". Mit der Gruppe der Tetrarchen und dem so genannten Kopf des Carmagnola (beides Irene Favaretto) werden zwei berühmte und legendäre Porphyrskulpturen beschrieben. Es werden die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Legenden vorgestellt und Vorschläge für eine Identifizierung der Dargestellten gemacht. Bei den Altären der Heiligen Jakobus, Paulus und Klemens des Renaissancebildhauers Antonio Rizzo (Anne Markham Schulz) ist ein Einfluss florentinischer Formen, insbesondere von Donatello, sichtbar. Die Säulen des Hauptaltarziboriums (Thomas Weigel) sind "einer der bedeutendsten erhaltenen Komplexe der frühbyzantinischen Reliefskulptur" (178).
Der letzte Teil befasst sich mit Stil und Chronologie der Mosaiken (Renato Polacco). Dabei stehen deren Datierung und Zuschreibung im Vordergrund. Waren im 12. Jahrhundert bei der Entstehung der ersten Mosaiken noch ausschließlich byzantinische Mosaizisten tätig, traten im 13. Jahrhundert neben diesen auch venezianische auf. Durch Stilvergleiche lassen sich die Arbeiten der verschiedenen Jahrhunderte einschließlich der zahlreichen Restaurierungen voneinander unterscheiden. Zu ersten Erneuerungen an den Mosaiken kam es bereits im 15. Jahrhundert nach verschiedenen Bränden. Weitere große "Erneuerungsarbeiten" wurden zwischen 1550 und 1650 unternommen. Viele, teils sehr fragwürdige Restaurierungen gab es im 19. Jahrhundert. Bis heute stellen die Mosaiken von San Marco ein ständiges Restaurierungsproblem dar. In den Mosaiken des Baptisteriums (Debra Pincus), die die Vita Johannes des Täufers darstellen, nutzte die Republik Venedig eine weitere Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Auch hier findet man stilistisch eine Verschmelzung von östlichen und westlichen Traditionen. Dann wird als Beispiel für die ikonographische Lesart der Mosaiken die so genannte Genesiskuppel vorgestellt (Antonio Niero), die im 13. Jahrhundert entstand. Insbesondere wird hier auf die Vorbilder aus der Buchmalerei für die Darstellungen eingegangen. Des weiteren werden die Mosaiken der Zen-Kapelle analysiert (Maria Da Villa Urbani).
Schließlich wird der Schatz von San Marco vorgestellt (Renato Polacco). Seine bedeutendsten Stücke kamen 1204, nachdem die Kreuzfahrer im 4. Kreuzzug Konstantinopel erobert hatten, nach Venedig. Durch Brände und Diebstähle ständig bedroht, erlitt der Kirchenschatz seine größten Verluste nach dem Ende der Republik 1797. Charakteristisch für viele in ihm enthaltene Stücke ist ein "Wiederverwenden kostbarer Objekte völlig verschiedener ursprünglicher Bestimmungen, um ausgefallene Ergebnisse zu erzielen" (286). Bedeutend sind zahlreiche Einbände von Evangeliaren und Messbüchern, die ganz von der byzantinischen Ästhetik geprägt sind. Hier befindet sich auch ein außergewöhnlicher Bestand an Kelchen und Patenen sowie an Bergkristallarbeiten. Der Altaraufsatz pala d'oro (Renato Polacco) wird beschrieben und seine Enstehungsgeschichte dargestellt. Auch die pala feriale des Malers Paolo Veneziano (Rona Goffen), die "Werktagsabdeckung" des kostbaren goldenen Altaraufsatzes, die der Doge Andrea Dandolo anlässlich dessen erster Restaurierung stiftete, wird gedeutet. Die Wandteppiche der Passion (Maria de Villa Urbani) sind ein frühes Beispiel von flämischen Tapisserien, die nach den Vorzeichnungen eines italienischen Malers geschaffen wurden. Sie entstanden zwischen 1420 und 1430. In den ikonographischen Details der Intarsien der Sakristei von San Marco (Catarina Schmidt Arcangeli), die durch den Dogen Agostino Barbarigo gestiftet wurden, ist die Markuslegende dargestellt, die hier noch durch verschiedene posthume Wunder bereichert wird.
Die einzelnen Beiträge entwerfen ein komplexes Bild der Kirche San Marco in ihrer kunst- und kulturhistorischen Bedeutung. Es wird sehr anschaulich gezeigt, wie hier im Verlauf der Jahrhunderte zahlreiche und verschiedene künstlerische Strömungen und Stile zusammentrafen und einander ergänzten. Sie lassen das Bauwerk buchstäblich zu einer Schnittstelle zwischen antik-römischen, byzantinisch-griechischen, einheimisch-venezianischen und westeuropäischen Traditionen werden. Neue Forschungen und die Erkenntnisse aus den jüngsten Restaurierungen fließen in die Darstellungen ein und führen teilweise zu neuen Deutungsansätzen. Auch die zeremonielle Rolle, die San Marco als Staatskirche der Republik Venedig spielte, sowie die symbolische Bedeutung, die der Markuskult für das Selbstverständnis der Stadt und des Staates hatte, werden gebührend berücksichtigt. Nicht zuletzt seien auch die äußerst qualitätvollen Abbildungen erwähnt, die die Texte ergänzen und vereint mit diesen das vorliegende Buch zu einer gelungenen Überblicksdarstellung zur Kunst und Geschichte von San Marco werden lassen.
Carolin Wirtz